Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)
erzählt sie ihrem Nachbarn von den eigenartigen Vorgängen. Der Mann rät ihr, doch einmal im versperrten Zimmer der Baronin nachzusehen, vielleicht ließe sich ja dort ein Hinweis auf den Verbleib der Vermissten finden. Dieser Vorschlag erscheint Elise Hartmann vernünftig. Gemeinsam mit Fanni betritt sie durch eine normalerweise nicht benützte Seitentür den Raum. Da verschlägt es Mutter und Tochter auch schon den Atem: Mathilde von Ledske liegt, vom Tod entstellt, auf dem Fußboden.
Zyankali im Tee
Ihr Kopf ruht auf dem Kanapee, vor dem Mund zeigt sich ein erstarrter Blutstrom, der Körper ist unter den Tisch geglitten und bereits kalt. Dem Geschirrservice, das mit den Resten einer ausgiebigen Teemahlzeit auf dem Tisch steht, fehlt merkwürdigerweise die Teekanne. Stattdessen ist das Getränk in einen Wasserkrug gegossen worden.
Als sie den Blick von der schaurigen Szene abwendet, bemerkt Frau Hartmann, dass sowohl die Schlüssel zur Zimmertür als auch die Schlüssel zur Kommode verschwunden sind. Nicht einen Augenblick zweifelt die beherzte Witwe daran, dass in ihrem Haus ein Verbrechen geschehen ist, und begibt sich umgehend zur Polizei.
Beamte wie Polizeiarzt tippen auf eine Zyankalivergiftung – eine Annahme, die die spätere gerichtliche Obduktion des Leichnams bestätigt. Ein Selbstmord wird ausgeschlossen, denn Mathilde von Ledske hat weder einen Abschiedsbrief hinterlassen noch jemals Suizidabsichten geäußert. Sie schien im Gegenteil immer zuversichtlich und verstand sich hervorragend mit dem Studenten Albert Mikulitsch – ihrem Lebensabschnittspartner, wie man heute sagen würde.
Auch die Möglichkeit eines Unfalls fällt weg: Etwa ist die Kerze nicht hinunter gebrannt, sondern ausgelöscht worden, und es fehlt, wie erwähnt, der Zimmerschlüssel. Das Motiv für das Verbrechen liegt allerdings im Dunkeln. Dass es sich nicht um einen Raubmord handelt, ist bald klar, denn Schmuckstücke und Bargeld sind reichlich vorhanden. Dagegen hat die Täterin – der Verdacht fällt beinahe automatisch auf die geheimnisvolle Fremde aus Wien, die so sang- und klanglos verschwunden ist –, dagegen hat also die Täterin offensichtlich etliche Privatbriefe ihres Opfers mitgehen lassen.
Weil die Meldung vom gewaltsamen Tod der hochstehenden Dame sich rasch verbreitet und zur Sensation gerät, übernimmt der als überaus korrekt bekannte Münchener Polizeidirektor Karl Alexander von Burchtorff persönlich die Leitung der Amtshandlung. Zuerst schickt er seine Beamten in den Gasthof „Vier Jahreszeiten“, wo ihnen Aufschlussreiches zu Ohren kommt: Die Gesuchte hatte sich als „Maria Baronin Vay“ ins Meldebuch eingetragen und war am Morgen des 20. November nicht allein, sondern in Begleitung eines jungen Mannes angereist. Das elegante Paar hatte zwar getrennte Zimmer bezogen, tagsüber aber gemeinsam gespeist. Am nächsten Tag, dem 21., reiste der unbekannte Herr wieder ab, während seine Begleiterin noch in München blieb.
Des Weiteren erfährt die Polizei vom Hotelpersonal, dass „Baronin Vay“ am bewussten Morgen sehr lange schlief, gegen Mittag ausging, um drei Uhr zurückkehrte und ein Fläschchen Muscat de Lunel und eine Flasche Rotwein bestellte. Sie trank jedoch weder vom Rot- noch vom Dessertwein, sondern holte aus ihrem Koffer zwei kleine Kristallflaschen hervor, goss die Getränke hinein, ließ einen Lohndiener die Gefäße gut zupfropfen und ging mit der Bemerkung, dass sie noch zwei Tage in München bleiben wolle, um sich die Stadt anzuschauen, wieder fort.
Deshalb war das Personal einigermaßen erstaunt, als die junge Dame um 19.00 Uhr erhitzt ins Hotel zurückkam, ihre Rechnung verlangte und aufgeregt mitteilte, dass ihr Gemahl ihr telegrafiert habe und sie sofort nach Paris weiterreisen müsse. Obwohl im Hotel gar kein Telegramm eingelangt war, entsprach man selbstverständlich dem Wunsch des Gastes und wunderte sich über die Verwirrtheit der Frau beim Verteilen der Trinkgelder: Einen Kellner, den sie bereits zweimal bedacht hatte, wollte sie auch noch ein drittes Mal beschenken.
Peinlichkeiten für den Wiener Hof
Als Nächstes lässt Polizeidirektor von Burchtorff das Zimmer der Mathilde von Ledske in der Amalienstraße durchsuchen. Dabei finden die Beamten Dokumente, die die wahre Identität der Ermordeten enthüllen: Sie war die geschiedene Gattin von Gustav Graf Chorinsky, Freiherr von Ledske, und trug daher nicht den Titel einer Baronin, sondern sogar den einer Gräfin und
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