Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)
hat, gegenüber der Presse: „Ich war selten so erschüttert wie heute.“
Täter und Opfer zugleich
Die Erschütterung steigert sich noch, als Ernst Karl tags darauf die Beweggründe für seine Tat offenbart: Er ist homosexuell und wurde von Johann Kihsl deswegen erpresst. Somit wird der Kriminalfall zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion, denn Homosexualität bedeutet 1968 in Österreich nicht nur Diskriminierung, sondern steht auch unter Strafe. Paragraf 129 Absatz eins des Strafgesetzbuches legt fest, dass „Unzucht wider die Natur, das ist a) mit Tieren, b) mit Personen desselben Geschlechts“ als Verbrechen zu werten und mit schwerem Kerker von ein bis fünf Jahren zu ahnden ist. Die meisten anderen westeuropäischen Staaten – selbst überwiegend katholische Länder wie Italien, Spanien und Polen – haben die entsprechenden Bestimmungen bereits aus ihren Gesetzestexten entfernt.
Der rote Justizminister Christian Broda hat zwar Anfang der 1960er-Jahre als Mitglied des dritten Kabinetts von Julius Raab den Entwurf für die Straffreiheit von gleichgeschlechtlicher Liebe zwischen Erwachsenen fertig gestellt, die ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus aber zwischenzeitlich einen anderen Entwurf ins Parlament eingebracht, nach dem Homosexualität ein Delikt bleibt. Erst 1971, als Broda unter Bruno Kreisky erneut Justizminister wird, streicht er den Paragrafen 129 I b endgültig. Apropos Broda: Sein Verdienst ist es auch, dass in Österreich ein für allemal die Todesstrafe abgeschafft wurde, die von 1950 an noch für standesrechtliche Verfahren erlaubt war. Das nur nebenbei.
Für Ernst Karl jedenfalls kommt die Strafrechtsreform zu spät: Er ist wegen seiner sexuellen Neigung erpressbar gewesen und aus Verzweiflung darüber zum Mörder geworden. Keine Entschuldigung für seine Tat, aber ein Motiv. Ein halbes Jahr zuvor hat der junge Polizist den Gauner Kihsl bei einer Verkehrskontrolle angehalten und ihm ein Organmandat verpasst. Einige Tage später sichtet Kihsl, der selbst homosexuell ist, Karl samt älterem Freund, einem Geschäftsmann, in einem Männercafé. Jetzt hat der Gangster die ideale Geldquelle gefunden: In Etappen erleichtert er den Polizisten, der um seinen Job bangt, um die Beträge von 1.000, 2.000 und 5.000 Schilling. Danach zwingt er ihn, auch dem Geschäftsmann 10.000 Schilling abzupressen. Der Freund stellt den Scheck wirklich aus, Karl liefert ihn bei Kihsl ab, geht aber entgegen der Vereinbarung, dass auch er einen Teil der Summe erhalten soll, leer aus.
Im Dezember 1959 kann Ernst Karl die Forderungen seines Erpressers nicht mehr erfüllen. Er hat bereits Schulden gemacht, ist gepfändet worden und sieht keinen anderen Ausweg mehr, als 20 Schlaftabletten zu schlucken. Der Selbstmordversuch wird entdeckt und Karl in eine psychiatrische Klinik gebracht. Nach seiner Entlassung gerät er abermals in die Fänge des Erpressers: Nach Kihsls und Pöttlers Plan soll er bei einem Überfall auf ein Postamt mitmachen. Karl gelingt es, den beiden den Coup auszureden, indem er Kihsl dafür die erwähnte Pistole schenkt.
Als der Druck des Duos auf den Polizisten nicht nachlässt, überredet er die beiden zum Einbruch ins Kaufhaus Tivoli. Er folgt ihnen in die Garage, und als Kihsl ihn im Dunklen entdeckt und ruft: „Bist es du?“, antwortet Karl: „Ja. Wirf den Puffer weg!“ Da krachen auch schon die Schüsse aus der Dienstpistole, die Kihsl niederstrecken. Walter Pöttler, der seinem Komplizen zu Hilfe kommen will, treffen drei Nahschüsse. Dann nimmt Karl die Pistole, die er Kihsl geschenkt hat, an sich und feuert einen Schuss damit ab, um später glaubhaft zu machen, dass die Einbrecher zuerst auf ihn geschossen hätten.
Ein dritter Mord
Nach den abgeschlossenen Erhebungen ist der legendäre „Joschi“ Holaubek um Schadensbegrenzung bemüht. Sein knackiger Kommentar in der Arbeiterzeitung: „Das Vertrauen in die Polizei steht nicht unter Denkmalschutz. Wir müssen uns täglich neu darum bemühen, auch wenn es gerade keinen Fall Karl gibt.“ Holaubek versichert, dass die homosexuelle Veranlagung Karls der Dienstbehörde nicht bekannt gewesen ist und daher auch nicht eingegriffen werden konnte, als der Polizist die Grenzen des Gesetzes überschritt.
In derselben Ausgabe der Arbeiterzeitung nennt der spätere Chefredakteur Manfred Scheuch den Doppelmord eine spezifisch österreichische Tragödie: „Man kann mit gutem Gewissen sagen, dass Karl in kaum einem anderen europäischen
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