Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)
Land zum Mörder geworden wäre – zumindest nicht aus jenen Beweggründen, die ihn in Wien zu seiner Untat trieben. Denn die Gesetzeslage in den meisten anderen Ländern hätte es Erpressern gar nicht möglich gemacht, die homosexuelle Neigung eines Mannes zur Ausübung eines psychischen Zwanges zu missbrauchen.“
Als wohl letztes Opfer des Paragrafen 129 I b ist Ernst Karl zum Täter geworden. Das Gericht verurteilt ihn zu lebenslänglicher Haft, die er in der Justizanstalt Stein verbüßt. Dort trifft er auf einen anderen Lebenslänglichen: Johann Rogatsch, den grobschlächtigen Sexualmörder, der die Studentin Ilse Moschner auf dem Gewissen hat und sich in der Haft als schwer lenkbar erweist.
Immer wieder stiftet Rogatsch Unruhe unter seinen Mitgefangenen, indem er Gefängnisausbrüche anzuzetteln versucht, seine Kumpel dann verpfeift und sich selbst als Unschuldslamm hinstellt. Der elf Jahre jüngere Karl, ein attraktiver, sensibler und intelligenter Mann, verhält sich dagegen unauffälliger, wenn auch er als schwer psychopathisch gilt. In Rogatsch findet er einen Schachpartner, den er in jeder Partie mühelos mattsetzt.
Auch am 15. Jänner 1974 kurz nach 13.00 Uhr sitzen die beiden im abgesicherten Freizeitraum über dem Schachbrett – in friedlicher Eintracht, wie ein Wachebeamter beobachtet. Um 13.45 Uhr schrillen im Sicherheitsblock die Alarmglocken. Karl hat den Notschalter betätigt. Zitternd und keuchend stammelt er: „Ich bin gerade dem Tod entronnen!“ Der 41-jährige Rogatsch liegt, von den Spuren eines Kampfes auf Leben und Tod gezeichnet, reglos auf dem Boden, sämtliche Wiederbelebungsversuche des Wachpersonals sind vergeblich.
Einmal mehr beruft sich Ernst Karl auf Notwehr: Rogatsch habe ihn zu einem Ausbruchsversuch zwingen wollen, wobei er den Anstaltsdirektor und höchste Justizfunktionäre als Geiseln zu nehmen gedachte. „Als ich ablehnte, ist er wie ein Tier über mich hergefallen“, behauptet Karl, der Rogatsch mit bloßen Händen erwürgt hat.
Ein Großaufgebot der Gendarmerie riegelt das Gefängnis hermetisch ab. Zu der befürchteten Häftlingsrevolte kommt es jedoch nicht. Im Gegenteil: Als sich die Nachricht von Rogatschs Tod in der Strafanstalt wie ein Lauffeuer verbreitet, jubeln die meisten Insassen begeistert – der Unruhestifter ist von allen gehasst worden. Und Ernst Karl wird mit dem Prädikat „Der Rächer von Stein“ belegt.
Qualvoller Tod
Den Rest seines Lebens verbringt der Ex-Polizist zusammen mit den gefährlichsten Straftätern Österreichs im Hochsicherheitstrakt der Strafanstalt. Dort entwickelt er eine immer stärker werdende Schizophrenie, die eine psychiatrische und medikamentöse Behandlung erfordert.
Am 14. Juni 2001 tritt bei dem mittlerweile 57-Jährigen abermals ein psychotischer Schub auf, Karl schreit und tobt, verwüstet seine Zelle und bricht sich die Nase. Der Anstaltsarzt verabreicht ihm eine Beruhigungsspritze und ordnet an, ihn in einer doppelt versperrbaren Einzelzelle auf dem sogenannten Gurtenbett festzuschnallen, um eine weitere Selbstverletzung zu verhindern. Im Klartext: Karl wird an Armen, Beinen und Rumpf gefesselt und kann sich – eine ganze Nacht lang – weder bewegen noch im Notfall den Alarmknopf drücken. Eine menschenunwürdige Behandlung, die der Europarat als Folter einstuft und die 1994 für österreichische Gefängnisse verboten wurde.
Trotz angeblicher halbstündiger Kontrolle durch das Wachpersonal erleidet Karl einen Darmverschluss. Da er sich wegen seiner Fixierung nicht bemerkbar machen kann, stirbt er unter höllischen Schmerzen. Erst um 7.03 Uhr findet man ihn leblos auf, obwohl sein Tod laut gerichtsmedizinischem Befund bereits um 5.30 Uhr eingetreten ist. Die Justiz versucht daraufhin den Vorfall zu vertuschen, der zuständige Minister Dieter Böhmdorfer (FPÖ) verfügt für alle Beteiligten einen Maulkorberlass.
Als schließlich Ermittlungsfotos des toten Häftlings mit Nasentamponage und Rinnsalen von Blut im Gesicht der Zeitschrift Falter zugespielt werden, ist die Erschütterung groß. Man enthebt zwar ein paar Verantwortliche ihres Postens, die Staatsanwaltschaft aber hat das Verfahren wegen Quälen eines Gefangenen längst eingestellt.
Der Tod des psychisch kranken Häftlings auf dem Gurtenbett war lediglich der Höhepunkt einer Reihe von Missständen im österreichischen Strafvollzug. Ernst Karl aber hat er sogar in seinem Sterben zum Opfer des Systems gemacht.
Das Haus des Grauens
In der
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