Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)
kluger Forensiker lässt sich nicht zu einem schnellen Urteil verleiten, das er später womöglich revidieren muss. Erst einmal verschafft er sich den nötigen Überblick: Zwei halbvermoderte Papiersäcke liegen in einem kleineren Weizenfeld, das Getreide ist schon geschnitten, die Halme stehen noch kniehoch. In den Säcken – Fetzen von Unterwäsche und eine zerlumpte Frauenbluse, verwesendes Fleisch umhüllend. Blanke Rippen ragen aus dem Brustkorb, in den Körperhöhlen wimmelt es von Käferengerlingen und Fliegenmaden, leere Puppenhülsen sind ebenfalls massenhaft vorhanden. Was jedoch fehlt, ist der Kopf der Leiche.
Dass bei einer solchen Auffindungssituation in jenen Tagen die Identifizierung nahezu aussichtslos erscheint, weiß der Gerichtsmediziner ebenso gut wie der Chefkriminalist. Ersterer fotografiert, skizziert, notiert, während der Geduldsfaden des Letzteren sich zum Reißen spannt. Da löst Werkgartner eine freiliegende Rippe, biegt sie über Daumen und Zeigefinger, knickt den Knochen und sagt: „Nicht jung, sondern mindestens 60 Jahre alt. Außerdem ein Mann und keine Frau. Der Tote liegt auch nicht seit dem Winter hier, sondern höchstens seit Anfang Juni. Morgen nach der Obduktion werden wir mehr wissen.“
Hofrat Wahl erstarrt in sprachlosem Staunen, worauf der Gerichtsmediziner höflich erläutert: „Die Altersbestimmung ist richtig. Ich kann mich da nicht irren, denn die Rippe eines jungen Menschen lässt sich nicht mit den Fingern brechen. Das geht nur bei einem über 60-Jährigen.“
Der Hofrat, ob der unverhofften Kompetenz des Experten fortan die Liebenswürdigkeit in Person, geleitet Werkgartner zum Wagen. Gewiss dürfe er den verehrten Herrn Doktor noch nach Hause bringen, und morgen werde er dann persönlich ins Institut kommen, um das Obduktionsergebnis zu hören.
Forensik anno 1922
Genauso geschieht es. Nach etlichen Stunden im Seziersaal erwartet Dr. Werkgartner Hofrat Wahl zum Privatissimum. Der Gerichtsmediziner hat die Befunde in 15 umfangreichen Punkten ins Protokoll diktiert. Alles wird ausführlich besprochen, und mit jeder weiteren Zeile schwindet die Zuversicht des Kriminalisten, dass der Tote vielleicht doch identifiziert werden könne. Immerhin aber verfügt der junge Gerichtsarzt über eine erstaunliche Kombinationsgabe. Beispielsweise stellt er zur Einschränkung der Tatzeit eine plausible Hypothese auf: Man habe die Leiche sicher verstecken wollen, meint er. Das Feld sei aber nicht groß. Hätte der Täter die beiden Säcke im Winter auf kahlem Boden abgelegt, wären sie bestimmt wesentlich früher entdeckt worden. Überdies würden zwei Feldwege unmittelbar am Fundort vorbeiführen, wie auf seiner, Werkgartners, Skizze eingezeichnet. Da wären die Leichenpakete höchstwahrscheinlich im Frühjahr, beim niedrigen Stand der Saat, gefunden worden.
Umgehend lässt der Jungwissenschaftler den Beweis aus der Botanik folgen: Beim Schneiden des Weizens sind die Halme am Feld kniehoch stehengeblieben, und die von den Säcken niedergedrückten Halme zeigen an den Knoten keine Knickungen. Diese hätten aber entstehen müssen, wäre der Weizen während des Wachstums umgelegt worden. Negativer Geotropismus heiße das Phänomen, so Werkgartner, auf gut Deutsch: Der wachsende Halm sei bestrebt, sich immer wieder in die Senkrechte einzustellen. Desweiteren hat der Weizen, der in der Umgebung Wiens im Herbst gesät worden ist, die volle Halmhöhe in der ersten Junihälfte erreicht. Daher können – unter der logischen Annahme des Versteckens – die beiden Säcke mit dem zerstückelten Mordopfer nicht vor Anfang Juni in das Getreidefeld gebracht worden sein. Auch nach der anderen Seite hin vermochte Dr. Werkgartner die Tatzeit einzugrenzen: „Es muss länger als nur ein paar Tage her sein, dass man den Toten aufs Feld gebracht hat, denn der Boden am Fundort ist stark mit Fäulnisflüssigkeit durchtränkt.“ Aus der Insektenfauna an der Leiche ergibt sich, dass der Tod etwa zu Pfingsten eingetreten ist.
Mit dieser Erkenntnis ist Werkgartners Privatvorlesung keineswegs beendet. Jetzt gerät der Gerichtsmediziner erst richtig in Fahrt: „Als der Mann starb, war er nur mit Hemd und Unterhose bekleidet – folglich musste er zu Hause ermordet worden sein.“ Außerdem lassen die fehlenden Abwehrverletzungen auf ein hinterhältiges Vorgehen des Täters schließen. Die Unterhose weist Schnitte auf, der Stoff – Barchent übrigens, ein seinerzeit verbreitetes, einseitig aufgerautes
Weitere Kostenlose Bücher