Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)
Baumwollgewebe – wurde beim Zerstückeln durchtrennt.
Aufmerksam lauscht Hofrat Wahl den Ausführungen Werkgartners, wobei seine Hoffnung, die Personalien des Mordopfers ermitteln zu können, allmählich auf den Nullpunkt sinkt. Da nickt der Wissenschaftler ihm aufmunternd zu. Das Beste hat Werkgartner sich bis zum Schluss aufgehoben: den durchtrennten rechten Oberschenkel.
Der große Röhrenknochen zeigt etwas unterhalb der Mitte eine unregelmäßige Verdickung – die Spur eines alten, mit starker Verschiebung geheilten Knochenbruchs. Zwar fehlt an der Durchtrennungsstelle am Bein ein kleines keilförmiges Knochenstück, aber die übrige Schnittfläche ist glatt – genau wie jene des Knochenteils, der aus dem Becken ragt. Setzt man nun die beiden Knochenstücke des rechten Oberschenkels zusammen, so erhält man eine Gesamtlänge von 41 Zentimeter. „41 Zentimeter“, wiederholt Werkgartner.
Wahl stutzt – und begreift. Worauf Werkgartner bestätigt: „Der linke Oberschenkelknochen ist um drei Zentimeter länger. Der Mann hat gehinkt!“
Aufklärung dank Arbeitsunfall
Aus dieser Information und der errechneten Körpergröße von ungefähr 1,65 Meter lässt sich kriminalistisches Kapital schlagen. Wahl stürzt zum Telefon, verlangt das Sicherheitsbüro, erteilt Anweisungen und schüttelt dem Gerichtsmediziner herzlich die Hand.
Durch die eingeleitete Polizeikampagne wird die Bevölkerung aufgerufen, seit etwa Pfingsten abgängige Personen mit entsprechenden Merkmalen anzuzeigen. Schon bald melden Mieter eines Hauses in der Sedlitzkygasse im elften Bezirk, dass der 67-jährige Dachdeckergehilfe Simon Mikschofsky seit dem 5. Juni 1922, dem Pfingstmontag, verschwunden ist. Obendrein ist dessen Frau den Nachbarn durch ungewöhnlich gründliche Reinigungsaktionen aufgefallen und hat, als man sich nach dem Verbleib des Mannes erkundigte, mit eigenartigen Ausflüchten geantwortet.
Die Kriminalbeamten begeben sich unverzüglich in die Sedlitzkygasse, finden die Wohnung jedoch versperrt vor. Die Frau – ausgeflogen. Immerhin ist ein Arbeitskollege des vermissten Dachdeckers greifbar, der von einem Arbeitsunfall berichtet, den Simon Mikschofsky vor 17 Jahren erlitten hat. „Er ist vom Dach gestürzt, hat sich den Oberschenkel gebrochen und hinkt seit dieser Zeit.“
Daraus ergibt sich eine weitere Aufgabe für den Gerichtsmediziner. Einen halben Tag lang telefoniert Werkgartner mit den Archivaren in den Wiener Spitälern und erhält schließlich Mikschofskys detaillierte Krankengeschichte samt Röntgenbildern: Der damalige Verletzungsbefund stimmt mit den bei der Obduktion festgestellten Spuren des schlecht verheilten Oberschenkelbruchs genau überein.
Nun, da endgültige Klarheit über die Identität des Mordopfers herrscht, fahren die Kriminalisten noch einmal zur Wohnung des Dachdeckers. Ein gutmütiger Kerl ist er, sagen die anderen Hausbewohner, mit seiner Frau aber lebt er alles andere als gut, sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Als die Tür abermals nicht geöffnet wird, muss die Feuerwehr sie aufbrechen. Und in der bescheidenen Zimmer-Küche-Unterkunft stoßen die Beamten dann auf die unmissverständlichen Spuren eines Blutbades: blutdurchtränkte Lappen, ein blutbeflecktes Messer, eine Hacke mit Blutkrusten.
Die Fahndung nach der Frau des Dachdeckers läuft an, einige Tage später wird Marie Mikschofsky verhaftet. Sie macht einen verwahrlosten Eindruck. Emotionslos schildert sie den Kriminalisten die grausige Tat: Wegen des Waschtrogs sei sie mit ihrem Mann in Streit geraten. Dabei habe sie ihn umgestoßen, er sei nach hinten getaumelt und mit dem Kopf auf den eisernen Ofen gestürzt. Wahrscheinlich, so sagt sie, habe er sich dabei das Genick gebrochen. Da sie außerstande war, ihn wegzuschaffen, schnitt sie ihm den Kopf mit einem scharfen, spitzen Messer ab und zerstückelte anschließend die Leiche mit der Hacke. Den Kopf hat sie in der Schürze zum Donaukanal getragen und ins Wasser geworfen, die anderen Körperteile entsorgte sie auf dem Feld.
Genau besehen hat Simon Mikschofsky seine Ermordung bereits 15 Jahre zuvor besiegelt: An einem Frühlingstag 1907 hat er seine wegen Paranoia in der Landesnervenheilanstalt Gugging internierte Frau gegen Revers heimgeholt. Sie mache ihm zwar das Leben sauer, aber er nehme sie wieder zu sich, weil sie ihm leid tue, begründete der Dachdecker seine Entscheidung Freunden gegenüber. Sein Mitgefühl bezahlte er mit dem Leben.
Obwohl die Volksseele kocht und
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