Mord mit kleinen Fehlern
zu tun. Wenn die Welt glaubte, dass Anne tot war, dann würde sie auch tot bleiben. Das Totsein spielen.
Im Moment war es die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben.
4
Eine halbe Stunde später hatte Anne ihren Schlüssel einem verblüfften Makler zurückgegeben und bretterte in dem roten Mustang den Atlantic City Expressway entlang. Sie hatte ihr duschnasses Haar zu einem Knoten aufgesteckt und setzte eine weiße Baseballmütze darüber, tief ins Gesicht gezogen. Zu der Mütze trug sie ein weißes T-Shirt, den Jeansrock und die Pantöffelchen mit dem Leopardenmuster, weil ihre Laufschuhe klatschnass waren. Ihre Augen hinter der Oakley-Sonnenbrille waren immer noch angeschwollen von den Tränen, die sie unter der heißen Dusche vergossen hatte. Sie spürte, es würden nicht die letzten Tränen sein.
Der Mustang donnerte über den Highway, und Anne hielt das dick gepolsterte, mit Kunstleder überzogene Lenkrad fest umklammert. Der gelbe Zeiger des Tachos zitterte, als sie von hundertzwanzig auf hundertvierzig Stundenkilometer beschleunigte. Es herrschte so gut wie kein Verkehr, weil alle wegen des vierten Julis in Richtung Strand fuhren und sich auf ein sonniges Ferienwochenende freuten. Anne schaltete das Radio ein, fand einen Sender, der rund um die Uhr Nachrichten brachte, und ließ Sonnenbrandwarnungen, Verkehrsmeldungen und Hinweise zu Meerestemperaturen über sich ergehen, bis endlich die richtigen Nachrichten kamen. Sie drehte die Lautstärke auf:
»Die Polizei hat bislang weder einen Verdächtigen noch ein Motiv für den Tod von Anne Murphy, einer Anwältin der Kanzlei ROSATO & PARTNER, die gestern Abend erschossen wurde. «
Anne biss sich auf die Lippen. Es tat weh, war surreal und schrecklich. Ihr vermeintlicher Tod war die Meldung des Tages, und die arme Willa blieb namenlos.
»Die Innenstadt-Kanzlei ROSATO & PARTNER hat 50.000 Dollar Belohnung für Informationen zur Ergreifung des Täters ausgesetzt. Jeder, der zur Aufklärung des Falles beitragen kann, wird gebeten, die Mordkommission anzurufen unter der Rufnummer ... «
Das überraschte Anne. Sie hatte nicht an eine Belohnung gedacht, geschweige denn daran, dass die Kanzlei eine Belohnung aussetzen würde.
»Bleiben Sie dran. Wir informieren Sie umgehend über neue Entwicklungen. Einen ausführlichen Bericht über die Tat finden Sie auf unserer Website unter ...«
Anne schaltete das Radio aus. Ein klobiger Reisebus blockierte die Überholspur, und als er sich wieder auf die rechte Spur einordnete, zog sie rasch an ihm vorbei. Dann nahm sie ihr Handy zur Hand und rief wieder bei sich zu Hause an. Es nahm immer noch niemand ab. Dann rief sie bei Mary an. Auch niemand. Sie wollte keine
Hallo-ich-lebe- Nachricht hinterlassen und klappte ihr Handy zu. Sie würde es später noch einmal versuchen müssen. Wenn sie keine hundertvierzig die Stunde mehr fuhr.
Eine Stunde später, nachdem sie es vorübergehend aufgegeben hatte, Mary verständigen zu wollen, erreichte sie Philadelphia. Sie bog an der 22. Straße vom Highway ab und fuhr direkt zum Benjamin Franklin Parkway, einem sechsspurigen Boulevard, der vor rot-weiß-blauen Aktivitäten nur so brummte. Der Parkway war mit einer Reihe bemalter Sägeblöcke abgeriegelt, und der Verkehr wurde umgeleitet.
An einer Ecke winkte ein Cop direkt vor Anne die Fußgänger über die Straße. Sie zog die Baseballmütze noch tiefer ins Gesicht. Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt erkannt zu werden. Der Motor des Mustang knatterte im Leerlauf. Langsam ging das Benzin aus, und von der langen Fahrt war ihr extrem heiß. Anne besah sich die Menge, die vor der Motorhaube die Straße überquerte. Ganze Familien hielten sich an den Händen auf dem Weg zum Art Museum, wo Aluminiumtribünen und Zelte aus Fallschirmseide aufgestellt worden waren. Jogger liefen mit federnden Schritten zum Schuylkill River. Kunststudenten warfen Labradorhunden mit Halstüchern Frisbee-Scheiben zu. Kinder hüpften ausgelassen über den mit Kaugummi verklebten Gehweg und ließen Ballons steigen. Der Duft nach Hotdogs erfüllte die Luft, und diverse Verkaufsstände boten amerikanische Flaggen, Uncle-Sam-Hüte , aufblasbare Liberty- Glocken und T-Shirts feil, auf denen IC H WURD E A M VIERTE N JUL I GEBUMS T stand. Igitt.
Hier in der Stadt fühlte Anne sich angespannt. Nur fünf Häuserblocks entfernt fing das Viertel an, in dem sie wohnte. Wie oft hatte sie genau diese Kreuzung auf dem Weg von oder zur Arbeit überquert - aber
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