Mord mit kleinen Fehlern
jetzt war ihr die Gegend kaum mehr vertraut. Sie hatte sich für immer verändert, war ihr genommen worden. Wenn Kevin frei war, hatte sie ihre Chance auf einen Neuanfang verspielt. Und doch wusste sie, dass ihr Verlust mit dem von Willa nicht zu vergleichen war. Falls Willa wirklich tot war.
Der Cop winkte sie weiter, und Anne senkte den Blick, als sie vor seiner Nase über die Kreuzung fuhr. Eine Brise vom Schuylkill River blies durch den breiten Boulevard, ließ die bunten Flaggen aller Nationen flattern und brachte die Ketten, mit denen sie an den Straßenlampen befestigt waren, zum Rasseln. Ein Mann, der die Straße überquerte, sah sie im Vorbeifahren aufmerksam an, darum fuhr Anne an den Straßenrand und schloss das Verdeck des Cabrios. Das Stoffdach glitt über sie hinweg, und sie fühlte sich darunter wie unter einer vom Fahrzeughersteller installierten Sicherheitsdecke.
Anne fuhr weiter, und nach ein paar Häuserblocks - Greene, Wallace und dann ihre Straße, die Waltin - erreichte sie die inoffizielle Grenze zu Fairmount. Sie bog nach links auf die Waltin und befand sich plötzlich in einem ungewöhnlich langen Stau, der die einspurige Fahrbahn blockierte. Leute von außerhalb der Stadt, die zu den Feierlichkeiten auf dem Parkway gekommen waren. Fremde ergossen sich über ihre Straße. War einer von ihnen Kevin? Anne lugte unter ihrer Baseballmütze hervor. Keiner von ihnen sah aus wie Kevin. Sie blieb hinter einem weißen Camaro stehen. Ihr Magen verkrampfte sich. Alles war jetzt anders geworden.
Sie inspizierte die Straße mit neuen Augen. Reihenhäuser, aus deren erstem Stock amerikanische Flaggen hingen, und ein schwuler Nachbar, der seine Regenbogenfahne voller Stolz gehisst hatte. Die Szenerie wirkte absolut normal, obwohl die Straße beidseitig völlig zugeparkt war und nur wenige Autos den weißen Anwohner-Aufkleber vorzuweisen hatten. Auf den Gehwegen drängten sich die Menschen, aber Anne wusste nicht, ob es ihre Nachbarn waren, denn sie kannte ihre Nachbarn nicht.
Ein älterer Mann ging mit einem rehbraunen Mops die Straße entlang; der geschnörkelte Schwanz des Hundes wippte, sein rollender Gang schien unbeschwert. Anne sah es mit einem plötzlichen Stich. Sie machte sich Sorgen um Mel. Sie reckte den Hals und schaute die Straße hinunter. Der Kater war nirgends zu sehen. Ihr Reihenhaus befand sich mitten im Häuserblock; die roten Ziegel waren vor kurzem dampfstrahlgereinigt und der alte grüne Anstrich ihrer Eichentür von einem neutralen Lack ersetzt worden. Der für gewöhnlich vertraute Anblick ließ sie erschauern.
Der Stau löste sich nur langsam auf, und der Camar o vor ihr schob sich eine Wagenlänge vorwärts. Anne fuhr ein paar Zentimeter weiter, erhaschte einen besseren Blick auf ihr Haus. Ein Stück zerrissenes gelbes Plastikband flatterte von ihrem Türknauf. Bei dem Anblick ließ sie sich in den weichen Fahrersitz zurückfallen, mit einem schweren Gewicht auf der Brust. Es war ein polizeiliches Absperrband. Willa musste tot sein. Zu glauben, sie sei es nicht, war nur Verdrängung. Annes Haus war zum Schauplatz eines Mordes geworden.
Anne hielt die Tränen zurück. Sie musste in Erfahrung bringen, wer das getan hatte; ob es Kevin war. Sie hatte während ihrer Zeit bei ROSATO & PARTNER einige Tatorte in Augenschein genommen, und sie beschloss, diesen Tatort wie jeden anderen zu behandeln, auch wenn sie die Miete dafür bezahlte. Möglicherweise war Willa im Haus ermordet worden.
Sie fuhr weiter, sobald sich der Camaro erneut in Bewegung setzte, den Blick auf ihr Haus gerichtet. Es stand kein Cop vor der Tür, der offizielle Besucher notierte, die Schaulustigen vertrieb und dafür sorgte, dass keine Beweise vernichtet wurden. Seine Abwesenheit signalisierte, dass der Tatort schon freigegeben worden war. Das überraschte sie. Für gewöhnlich wurde ein Tatort erst nach zwei oder gar drei Tagen freigegeben.
Der Mustang rollte weiter. Als Anne näher kam, registrierte sie noch etwas Merkwürdiges an ihrem Haus. Passanten standen vor ihrer Tür herum, und als sie weitergingen, konnte Anne sehen, dass auf ihrer Vordertreppe ein paar in Zellophan eingewickelte Blumensträuße lagen. Anne schaute verblüfft aus dem Wagenfenster. Vermutlich waren die Blumen für sie niedergelegt worden, aber von wem? Sie hatte keine Freunde. Sie blinzelte hinter den Brillengläsern, versuchte vergeblich, die Karten aus der Ferne zu entziffern. Sie fragte sich, ob einer der Sträuße von Matt war.
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