Mord ohne Leiche
roch ihren Waldmeisterkaugummi.
Sie sagte: »Ich habe Angst.«
»Wovor? Es gibt keinen Grund.« Doch ich
wußte, warum: Irgend etwas stimmte hier nicht. Man spürte das Böse, das hier
geschehen war. Auch mir rieselte es kalt den Rücken hinunter.
Sie nahm einen Schlüssel heraus, öffnete
das Vorhängeschloß und zog es aus der Öse des Riegels. Sie stieß den einen
Torflügel auf, der noch in den Angeln war. Er schwang herum und blieb an einem
Feuerdornbusch hängen. Amy zog das Tor wieder zu und machte sich auf den Weg
durch das Dickicht.
Das helle Mondlicht half uns, den Weg
zu finden. Als wir die Büsche hinter uns hatten, sah ich auf der Veranda durch
die Lücken der Fensterläden Lichtstreifen. Das durchhängende Dach zeichnete
sich gegen den Himmel ab, der Kamin stand etwas schief. Im Schatten der Veranda
standen die klapperigen Möbel aus Weidengeflecht. Der Schaukelstuhl schwang im
Wind vor und zurück und stieß dabei gegen die Hauswand.
Hier war dieses Gefühl, daß etwas Böses
geschehen war, noch deutlicher zu spüren. Aus einem Reflex heraus klopfte ich
gegen meine Umhängetasche und wünschte mir, ich hätte eine Waffe dabei. Früher
hatte ich zwei besessen, eine zu Hause, die andere im Handschuhfach des Wagens,
mit einem Spezialschloß gesichert. Doch vor ein paar Monaten hatte jemand den MG
aufgebrochen und das Fach geknackt. Danach hatte ich beschlossen, keinen
Revolver mehr hineinzulegen. Jetzt fragte ich mich allerdings, ob das ein
kluger Entschluß gewesen war.
Amy schien ihre Angst — wovor auch
immer — überwunden zu haben. Sie eilte die ausgetretenen Stufen hinauf, steckte
einen anderen Schlüssel in die Tür und stieß sie auf. Ich wollte sie
zurückhalten und warnen, doch sie ging hinein.
Geradeaus sah ich einen dunklen
Ziegelkamin. Darüber war ein riesiger, ausgestopfter Fisch, an einer Platte
befestigt, der sicherlich nie im Wasser dieses Flusses geschwommen war. Eine
Angelrute — so eine altmodische aus lackiertem Holz mit dicken Metallösen für
die Leinenführung — lehnte an der Kaminschürze neben einer offenen Kiste mit
Angelzubehör, die auf dem Boden stand. Das Zimmer hatte eine niedrige
Balkendecke. Auf den Hartholzdielen des Fußbodens lagen Flickenteppiche. Um den
Kamin stand eine Sitzgruppe aus knotigem Pinienholz mit Chintzkissen, wie man
sie oft in Sommerhäusern findet. Zwei Stehlampen mit vergilbten Schirmen und
schwachen Birnen erhellten den Halbkreis.
Marc Emmons saß rechts vom Kamin. Amy
sagte: »Da sind wir!«, ging zu ihm hinüber und überließ es mir, die Tür zu
schließen. Als ich in den Raum trat, stand sie in steifer Abwehrhaltung neben
seinem Sessel, den Blick auf den Mann gerichtet, der Marc im Schatten
gegenübersaß.
Es war Rob Soriano alias Warren S.
Howard. Er hockte verkrampft auf der Kante der Kaminbank. In der Rechten hielt
er einen .32er Revolver.
Zu spät wurde mir klar, daß der Wagen,
den ich weiter unten zwischen den Bäumen hatte stehen sehen, ungewöhnlich weit
von dem erleuchteten Haus, aber nicht annähernd so weit von diesem Cottage
entfernt gestanden hatte.
Soriano nickte mir zu. Seine
stahlgerahmten Brillengläser funkelten. Die Augen dahinter sahen nervös hin und
her. Als er sagte: »Ms. McCone, ich dachte schon, Sie würden überhaupt nicht
mehr kommen«, klang seine Stimme höher als gewohnt.
Ich stützte meine Hände auf die
Rücklehne des Sessels vor mir. »Haben Sie lange gewartet?«
»Eine knappe Stunde. Marc hier
versuchte mich davon zu überzeugen, daß Sie gar nicht kommen würden. Aber
nachdem ich erfahren hatte, daß Amy bei All Souls auf Sie wartete, wußte ich,
daß es nur noch eine Frage der Zeit war.«
Also war Soriano der Mann am Telefon
gewesen. Ich hatte mir das richtige Motiv für den Anruf zusammengereimt, aber
den falschen Anrufer.
Ich sah Emmons an. Sein Gesicht war
käseweiß und glänzte vor Schweiß trotz der Kälte im Raum. Er leckte sich die
trockenen Lippen und sagte schwerfällig: »Er hat von Jay erfahren, wo wir sind
und daß sie Sie herbringt. Warum, zum Teufel, mußtest du ihn anrufen, Ame?«
Amy antwortete nicht. Sie starrte noch
immer Soriano an.
Seltsamerweise hatte ich keine Angst,
obwohl ich jetzt wußte, daß Soriano irgendwie mit der Explosion im Club zu tun
hatte und wahrscheinlich auch uns alle umzubringen beabsichtigte. Tödliche Ruhe
überkam mich. Ich ließ meine Umhängetasche in den Sessel fallen und dachte:
Gehen wir’s langsam an. Ganz langsam.
Emmons berichtete mir:
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