Mord ohne Leiche
und entdeckte ein Foto der
Howards und den Aufruf, eventuelle Hinweise zu melden.
Melinda Howard war wenigstens fünfzig:
kurz gewachsen, pummelig, mit Brille und blonden Haaren mit krauser Dauerwelle.
Warren Howard sah älter aus: Er hatte weiße Haare und dicke Tränensäcke unter
den Augen. Er hätte gut und gern fünfzig oder sechzig Pfund weniger wiegen
können.
Leute, die ich nie zuvor gesehen hatte.
Am liebsten hätte ich geschrien vor
Enttäuschung. Es paßte zusammen: Ein Immobilienhändler und seine Frau, ein
bevorstehender Bankrott, ein Brand. Es war perfekt.
Und doch stimmte alles nicht.
Im Coffee Shop sah ich Amy mit der
Kassiererin plaudern. In der Hand hat sie etwas zum Mitnehmen. Mein Ärger
erreichte den Siedepunkt. Wieso kaufte sie etwas zu trinken, wo ich ihr doch
gesagt hatte, sie solle sich beeilen? Ich drückte auf die Hupe.
Amy sah zu mir herüber, wechselte mit
der Kassiererin noch ein, zwei Scherzchen und kam zur Tür. Sie ging langsam,
jonglierte mit Pappbecher und Handtasche und fischte darin herum. Bevor sie in
den Wagen stieg, holte sie einen Streifen Kaugummi heraus, riß das Papier ab,
stopfte den Gummi in den Mund und warf die Hülle auf den Boden.
»Tut mir leid, daß ich so lange
gebraucht habe«, sagte sie.
Ich knirschte mit den Zähnen. Amy zog
die Wagentür zu, blies den Gummi zu einer Blase auf und ließ sie mit einem
Knall platzen.
»Was ist das?« fragte sie und zeigte
mit dem Becher auf die Zeitung. Sie schüttete sich dabei Cola über die Hand.
Ich wollte die Times nehmen,
zusammenknüllen und hinter den Sitz schleudern. Aber im Interesse von Raes
ungeborenen Kindern hielt ich mich zurück.
Amy beugte sich zu mir, ließ den Gummi
noch einmal platzen und hauchte mich mit Waldmeistergeruch an. Wenn sie auf der
Fahrt zum Cottage weiterhin Geräusche wie ein Wiederkäuer machte, würde ich sie
wahrscheinlich erdrosseln.
»He, das ist komisch«, sagte sie.
»Was ist komisch?« Ich schob sie mit
dem Ellbogen auf ihren eigenen Sitz zurück.
»Der alte Kerl da.« Sie tippte mit dem
Finger auf das Foto in der Zeitung. »So, wie er aussieht, könnte er Rob Sorianos
Vater sein.«
Ich stieß ihre Hand weg und sah mir das
Bild genau an. Jetzt sah ich, was Tracy — die viel Zeit damit zugebracht hatte,
andere zu beobachten — sofort erkannt hatte. Das einzige, was mich überraschte,
war allerdings, daß Amy es vor mir erfaßt hatte.
Die steife, militärische Haltung des
Mannes war genau wie die von Soriano, und das galt auch für die tiefen Furchen,
die den Mund umrahmten. Das wellige weiße Haar konnte leicht kurz geschnitten
worden sein und einheitlich braun gefärbt. Die Tränensäcke unter den Augen
sahen bei näherer Betrachtung eher aus, als wären sie erblich und nicht
altersbedingt. Solche Dinge konnte man chirurgisch korrigieren, und
irgendwelche Unebenheiten ließen sich durch eine Brille verdecken. Man konnte
abnehmen und Muskeln trainieren. Und Melinda, die nun Kathy überhaupt nicht
glich? Eine Frau, die gestorben oder abgelegt worden war.
Warren Howard war Rob Soriano.
Rob Soriano, nicht Jay Larkey, hatte
Tracy ermordet.
Ich faltete die Zeitung zusammen und
legte sie zurück auf den Rücksitz. Als ich die Innenbeleuchtung abschaltete und
den Motor startete, sagte ich zu Amy: »Ich möchte, daß Sie auf Polizei achten,
damit wir nicht gestoppt werden. Wir müssen uns beeilen, daß wir zum Cottage
kommen.«
27
Vor dem Grundstück der Barbours oder in
dem Wendekreis, in dem die Straße hier endete, parkte kein Wagen. Nur vor dem
Haus, das am weitesten entfernt lag, duckte sich ein Auto unter die Bäume der
Auffahrt. Dort brannte auch Licht, während das Cottage der Barbours im Dunkeln
lag. Ich stellte den MG neben dem von Weinranken überwucherten Zaun ab und
schaltete den Motor aus.
»Hat Marc ganz sicher gesagt, daß er
auf uns wartet?«
»Wohin sollte er — ach, Sie meinen,
weil kein Licht brennt? Die Läden sind ganz dicht. Wir waren zwar ziemlich
sicher, daß die Polizei hier nicht aufkreuzen würde, aber für alle Fälle haben
wir sie zu gelassen.«
Ich stieg aus dem Wagen und bedeutete
ihr mit einer Handbewegung, dasselbe zu tun. Die Nacht war frisch. Vom Fluß
blies ein scharfer Wind herauf. Im Licht des Vollmonds sah das weite Gelände
des Salzbergwerks aus wie aus Eis. Einen Augenblick stand ich still und
lauschte dem Rieseln des Wassers und dem Rauschen der Büsche. In der Ferne
heulte traurig ein Hund.
Amy kam zu mir. Ich
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