Mord ohne Leiche
Gurski, dem
ich erzählte, was ich Neues über Lisa McIntyre wußte (und ihm damit den Abend
ruinierte, denn es warf seine bisherigen Theorien über den Haufen), überlegte
ich, wie ich an diese zwei Jahre alte Ausgabe der L. A. Times kommen
konnte. Ich rief die nächstgelegene öffentliche Bibliothek an, aber die war
geschlossen — wahrscheinlich wegen der gleichen Etatkürzungen, die auch in San
Francisco schon die Öffnungszeiten beschränkt hatten. Am beten sollte ich es
wohl bei der Times selbst versuchen. Aber zuerst mußte ich noch einen
Platz für den Rückflug buchen.
Wie sich herausstellte, flog die USAir
abends nicht mehr so häufig. Nur in der Neun-Uhr-Maschine gab es noch einen
Platz. Danach war ich auf mein Glück und die Stand-by-Liste angewiesen. Da sich
die Times mitten in der Stadt befand, war es durchaus möglich, daß ich
überhaupt keinen Flug mehr erwischte und die Nacht in L. A. verbringen mußte.
Ich zögerte nur einen Moment, entschied dann, daß es wichtiger war, am
Brennpunkt meiner Ermittlungen zu sein, und buchte den letzten Platz um neun.
Auf dem Rückflug trank ich einen
ungewohnten Bourbon mit Wasser und versuchte, anhand der neuen Fakten zu
rekonstruieren, was mit Tracy in dieser regnerischen Winternacht passiert sein
mochte.
Sie war in den Club gekommen und hatte
den Zusammenstoß mit Lisa gehabt. Sie war — untypisch für sie — außer sich
geraten, war zusammengebrochen und hatte geweint. Zuvor hatte sie Angst davor
gehabt, kein guter Mensch mehr zu sein. Jetzt erlebte sie, wie ihre Welt aus
den Angeln geriet, weil sie andere Menschen schäbig behandelt hatte. Wenn Lisa
Jay alles erzählte, würde er auf alle Fälle mit ihr Schluß machen, wenn nicht
mehr. Vielleicht würde er sogar versuchen, ihren Vertrag mit dem Club zu annullieren.
Aber noch schlimmer, sie würde als eine gefühllose Opportunistin dastehen. So
war ihr erster Impuls zu fliehen — dorthin, wo sie so oft gewesen war, um
allein zu sein und nachzudenken.
Doch dazu brauchte sie einen Wagen.
Zuerst wandte sie sich an Marc. Aber er hatte abgelehnt, weil er den Wagen am
nächsten Tag selber brauchte. Als nächstes ging sie zu Kathy. Kathywar
getrennt von ihrem Mann zum Club gefahren, und so war sie bereit, ihr den Volvo
zu leihen. Wahrscheinlich hatte Tracy nach ihrer Vorstellung beim Verlassen des
Clubs die Schlüssel aus dem Kästchen genommen. Doch dann hatte sie ihren
zweiten Zusammenstoß an diesem Abend gehabt, und zwar mit Bobby Foster.
Wenn sie so beschämt und außer sich war
von Lisas Drohung, alles auszuposaunen, wieso hatte sie dann Bobby die Wahrheit
ins Gesicht gesagt, warum sie mit ihm geschlafen hatte? Vermutlich nahm sie an,
daß er es ohnehin bald herausfinden würde. Weil sie litt, wollte sie vielleicht
zurückschlagen und jemand anderen auch leiden lassen. Oder sie war in Eile und
sagte deshalb das erste, was ihr einfiel, damit er sie gehen ließ. Jedenfalls
holte sie sich den Volvo vom Parkplatz und fuhr nach Napa County. Daß Tracy
zweimal auf ihrer Fahrt »gesehen« wurde, wie die Polizei höchst sorgfältig
ermittelt hatte, entsprach wohl den Tatsachen. Sie mußte die Strecke über die
Bay Bridge genommen haben, wo ihre ehemalige Mitschülerin sie gesehen haben
wollte, und sie konnte auch sehr wohl in der Nähe von Berkeley vor dem
Lebensmittelladen angehalten und eingekauft haben.
Aber das reichte noch nicht. Es blieb
noch zuviel Zeit, die nicht belegt war. Was hatte sie zwischen zehn und zwölf
Uhr dreißig morgens getan, also in der Spanne, in der sie vermutlich auch über
die Brücke gefahren war? Nach Hause gefahren und die Schlüssel für das Cottage
geholt? Und zu Marc Emmons’ Wohnung gefahren, wie sie es Bobby angekündigt
hatte? Nicht herauszubekommen.
Also, was dann?
Führte ich das, was Lisa mir erzählt
hatte, zu einem logischen Schluß, dann hatte Larkey in seiner Wut den Revolver
hinter der Bar hervorgeholt, war zum Fluß gefahren, hatte Tracy erschossen und
ihre Leiche versteckt. Die Schüsse waren in dem Volvo gefallen — vielleicht
hatte sie versucht zu fliehen und nachdem Jay Kathy erzählt hatte, was passiert
war, war sie zu dem Schluß gekommen, daß es weniger riskant war, den Wagen
vorübergehend am Cottage stehenzulassen, als ihn zurückzuholen und zu
versuchen, die Blutflecke zu entfernen. Ich war sicher, Kathy wäre es nicht
schwergefallen, Jim Fox, Robs Assistenten, zu überreden, den Wagen als
gestohlen zu melden. Aber wie hatte sie das ihrem Mann
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