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Mord und Brand

Mord und Brand

Titel: Mord und Brand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Loibelsberger
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als auch Weihnachten völlig wurscht waren. Als überzeugter Atheist hatte er eine Aversion gegen religiöse Festtage. Seine Mutter allerdings, die mittlerweile 85– oder gar schon 86?– Jahre zählte, hatte mit zunehmendem Alter zum jüdischen Glauben zurückgefunden. Wenn das der Papa wüsste, dachte sich Leo Goldblatt, der würde im Grab rotieren. Denn sein Vater, der Kinderarzt Dr. David Goldblatt, war ein klassischer Liberaler gewesen, der jegliche Form von Religiosität kategorisch abgelehnt hatte. Als er gerade seine Schritte in Richtung Taborstraße lenken wollte, zupfte ihn jemand am Ärmel. Goldblatt drehte sich um und sah in das lachende Gesicht des Leib Abramovic.
    »Na, so was! Sieht man den Jingel wieder amal in der Leopoldstadt!«
    »Servus, Onkel Leo…«, murmelte Goldblatt. Da sein Vater den typisch jüdischen Vornamen Leib nicht mochte, hatte er den jüngsten Bruder seiner Frau immer Leo genannt. Überhaupt hatte er die Sippe seiner Frau nicht besonders gut leiden können. Es waren in den 1860er Jahren zugezogene Ostjuden, die er als unkultiviert empfunden hatte und deren traditionelle Bräuche ihm zutiefst peinlich gewesen waren. Diese väterliche Abneigung hatte sich auf den Sohn übertragen, der sich nun dachte: ›Was bin ich nur für ein Rindvieh, dass ich in dieser Gegend spazieren gehe…‹. Als der alte Abramovic den pikierten Gesichtsausdruck seines Neffen sah, legte er ihm gutmütig die Hand auf den Oberarm und sagte:
    »Nix für ungut, Jingel. Hab mich gefreut, dich zu sehen. Muss weiter, Geschäfte machen…«
    Weil er sich plötzlich ziemlich schäbig vorkam, gab sich Goldblatt einen Ruck und sagte:
    »Onkel Leo, wart einen Augenblick! Willst nicht mit mir auf einen Kaffee gehen? Ich lad’ dich ein…«
    »Na, kannst du dir das auch leisten?«
    Goldblatt musste grinsen. Er nahm den Alten beim Arm und sagte:
    »Wenn ich nicht genug Geld einstecken hab’, lass’ ich anschreiben und du wirst für mich bürgen…«
    Nun lächelte auch der Alte. Sie gingen in das Café Geissler, das sich am Rande des Marktes befand. Drinnen wurde gerade ein Tisch an einem Fenster frei und Leo Goldblatt setzte sich so, dass er dem bunten Treiben auf dem Markt in Ruhe zuschauen konnte. Hier war alles ärmlicher und einfacher als am Naschmarkt: Nicht nur die Kleidung der Kundinnen und der Fratschlerinnen, sondern auch das Warenangebot und die Art der Präsentation. Während am nobleren Naschmarkt das Gemüse meist in Körben und Steigen feilgeboten wurde, lag es hier in Haufen am Erdboden: Erdäpfel, Zwiebeln, Kraut und Rüben, alles in einem ziemlichen Durcheinander. Zur Abwechslung und weil er sich umständliche Erklärungen ersparen wollte, trank er keinen ›Goldblatt‹, sondern einen ganz normalen türkischen Kaffee. Sein Onkel Leo hatte sich ein Glas heiße Milch bestellt, das er mit Genuss schlürfte. Goldblatt beobachtete den Alten nun mit neu erwachtem Interesse: ein Wanderhändler, wie er leibte und lebte. Auf dem Kopf trug er drei Hüte übereinandergestapelt, die Taschen seiner Jacke waren prall gefüllt mit allerlei Zeug, und neben den Kaffeehaustisch hatte der Alte einen Sack hingestellt, aus dem Hosen, Sakkos und Stiefel hervorlugten. Voll plötzlicher Anteilnahme am Schicksal des Alten fragte Goldblatt:
    »Na, und wie gehen die Geschäfte?«
    »Ach herrjeh! Nicht genug jammern könnt’ man… Die Zeiten sind schlecht, sehr schlecht, Jingel.«
    »Aber du bist doch, wie ich sehe, in Sachen Herrenausstattung unterwegs. Einen Hut, eine Hose oder ein Sakko braucht man doch immer.«
    »Ach! Das ist doch alles Schmonzes… Lauter Schmonzes… Lauter Zeug für arme Leit. Kannst kein Geld damit verdienen.«
    »Brauchst du Geld? Soll ich dir welches borgen?«
    »Na, so schlecht gehen die Geschäfte auch wieder nicht…«
    Goldblatt musste schmunzeln. Er dachte an das alte Sprichwort ›Jammern ist des Kaufmanns Gruß‹ und fragte seinen Onkel, wie es denn der Familie gehe. Während dieser nachdenklich den Kopf hin und her wiegte und vor der Antwort einen kräftigen Schluck Milch machte, sah Goldblatt aus den Augenwinkeln Oprschalek am Café vorbeigehen. Wie von einer Tarantel gestochen sprang er auf, kramte in seinen Taschen, fand in der Eile nur einen 10-Kronen-Schein, drückte diesen seinem Onkel in die Hand, verabschiedete sich von ihm und war schon bei der Tür draußen. Der Alte schaute den Geldschein an, sah dann seinem Neffen nach, schüttelte den Kopf und murmelte:
    »Redakteur hätt’

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