Mord und Brand
er desinteressiert in der Zeitung und nickte schließlich ein. Mit einem sanften Ruck wurde er geweckt. Grinsend stand Budka vor ihm.
»Frantisek, was is denn los? Ein ordentlicher Mensch schlaft vormittags net.«
Oprschalek antwortete gähnend:
»Seit wann bin i a anständiger Mensch?«
Budka setzte sich und betrachtete ihn eindringlich.
»Sag, täusch ich mich oder hast du da am Hals einen Zuzelfleck 55 ? Außerdem hast darüber noch a rote Stelle. Die schaut aus, wie wenn dich ein Mädel dort bissen hätt… Was machst denn für Sachen, Frantisek?«
Oprschalek wurde rot. Er wischte mehrfach mit der Hand über besagte Stellen und rutschte auf der Kaffeehausbank unruhig hin und her.
»Na komm! Spann mich net so auf die Folter. Mit wem hast denn heute Nacht geditschkerlt 56 ?«
Mit einem verlegenen Grinsen erzählte Oprschalek nun, was letzte Nacht vorgefallen war. Budka schmunzelte und begann sich mit ihm über die Weiber im Allgemeinen zu unterhalten. Irgendwann fragte er:
»Sag, weswegen wolltest mich gestern sprechen?«
»Ah, des hätt’ ich fast vergessen… Stell dir vor, ich bin unlängst über den Karmelitermarkt spaziert und da hätt mich fast der blade Polizeiinspector, der Nechyba, festgenommen. Der hat mir sogar einen berittenen Polizisten nachg’schickt. Ich bin um mein Leben g’rannt…«
»Was tust du denn am Karmelitermarkt?«
»Naja, weißt eh… ich mag die Märkte. Und da ich nimmer in der Neustiftgasse wohn’, hab ich mich im Karmeliterviertel nach einer Schlafgelegenheit umg’schaut. Übrigens: Ich hab’ Glück im Unglück g’habt. Wie mir die He 57 auf den Fersen war, bin ich in einen kleinen Buchladen hinein und hab’ den Besitzer g’fragt, ob ich aufs Klo gehen darf, weil’s mir so pressiert. Danach hab ich den Buchhändler, Lhotsky heißt er, g’fragt, ob er jemanden in der Gegend weiß, der ein Zimmer zu vermieten hat. Und da bin ich dann sehr schnell mit ihm selbst handelseins g’worden. Weil der Lhotsky hat eh einen Untermieter g’sucht…«
»Warum wohnst denn nimmer bei der Amtsratswitwe in der Neustiftgasse?«
Oprschalek rührte in seinem Mokka herum, wandte den Blick zum Fenster und sagte beiläufig:
»Weil ich S’ derschlagen hab’.«
»Was? Davon is ja noch gar nix in der Zeitung g’standen.«
»Eh net. Die Alte liegt in ihrer Wohnung. Die hat keine Verwandten und Bekannten g’habt, dafür aber einen Haufen Schotter 58 . Den hab’ ich mir
eing’naht 59 .«
Nach einem weiteren Schluck Kaffee schaute er Budka an und lachte:
»Bis die wer findet, ist sie wahrscheinlich schon vermodert.«
XV.
Goldblatt saß in seinem Redaktionszimmer und sah zum Fenster hinaus. Ein strahlend schöner Frühlingsvormittag lockte, einen Spaziergang zu machen. Und da Goldblatt solchen Versuchungen nur schwer widerstehen konnte, packte er kurzerhand seine Schreibutensilien in die Manteltasche und verließ fast fluchtartig das Redaktionsgebäude. Sein Weg führte ihn hinunter zum Donaukanal. Er spazierte den Fluss entlang bis zur Augartenbrücke, die er überquerte. Es zog ihn in Richtung seiner alten Heimat, der Leopoldstadt. Sonnenstrahlen wärmten ihn wohlig. Er tauchte in das Gewirr der Gässchen des Karmeliterviertels ein, das zu einem guten Teil von Juden bewohnt wurde.
In den engen Gassen roch es nach feuchten Kellern und nicht minder feuchten Wohnungen, nach Moder und Schimmel, nach Petroleum und dem Rauch alter, undichter Kanonenöfen, nach eingelegten Fischen und eingelegtem Kraut, nach Knoblauch und Zwiebel und manchmal auch nach Seife und frisch gewaschener Wäsche. Auf den Gassen und Straßen waren zahlreiche Ostjuden unterwegs, Männer und Burschen im langen, schwarzen Kaftan, mit schwarzem Hut und Schläfenlocken. Die vorherrschende Sprache war hier nicht Deutsch, sondern Jiddisch. Goldblatt, der nicht weit von hier in der Taborstraße aufgewachsen war, erinnerte sich an Szenen aus seiner Kindheit. Und als er so gedankenverloren dahin schlenderte, fand er sich plötzlich auf einem großen Platz wieder: Auf dem Karmelitermarkt. Vor ihm ein Gewurl 60 von Menschen, die mit den Fratschlerinnen 61 feilschten, plauderten oder auch erbittert stritten. Goldblatt schreckte plötzlich auf und murmelte: »Ach Gott, die Mama…«
Sein schlechtes Gewissen hatte sich gemeldet. Und es bedrückte ihn die Tatsache, dass er die hochbetagte Dame seit Chanukka, beziehungsweise Weihnachten, nicht mehr besucht hatte. Wobei ihm, Leo Goldblatt, sowohl Chanukka
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