Mord und Mandelbaiser
Pflegedienstleiter in einen schaukelnden Trab.
Fanni rannte zur Treppe, nahm die Stufen zum Absatz hinunter in drei Sprüngen und kam am angeblichen Fundort der angeblichen Leiche zum Stehen.
Und dann stierte sie mit offenem Mund die marmorierten Bodenfliesen an, auf denen es nichts zu sehen gab – nicht einmal eine Staubfluse.
Schwer atmend traf Erwin Hanno am Treppenabsatz ein.
»Ich …«, sagte Fanni.
Ein missbilligender Blick traf sie und ließ sie verstummen.
Fanni schluckte. Ihre Augen suchten den Fußboden ab, musterten die Wände.
Nichts.
Sie schaute zum Pflegedienstleiter auf, der sichtlich entrüstet war.
»Er …«, krächzte Fanni, räusperte sich, sprach stockend weiter: »Er wird sich weggeschleppt haben. Wir müssen ihn suchen. Müssen ihn finden, bevor er tot zusammenbricht.«
Hanno hob die buschigen Brauen. »Sagten Sie nicht, Sie sahen Becker ›blutüberströmt‹ daliegen?«
Fanni nickte.
Der Pflegedienstleiter blickte die Treppenstufen hinauf und hinunter, dann runzelte er die Stirn. »Hier hat sich niemand aufgehalten, der blutete. Wie soll er sich weggeschleppt haben, ohne Blutflecken, ohne eine Schmierspur, ohne die kleinste Fährte zu hinterlassen?«
»Aber ich habe Roland doch gesehen«, begehrte Fanni auf. »Hier lag er, und sein T-Shirt war blutig, und seine Augen starrten mich blicklos an.«
Erwin Hannos Augen starrten Fanni nun ebenfalls an, doch keineswegs blicklos. Sie ließen deutlich erkennen, dass sich der Pflegedienstleiter Sorgen um Fannis Geisteszustand zu machen begann. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck, wirkte auf einmal professionell und abgeklärt. Seine Stimme klang jetzt beschwichtigend.
»Womöglich hat Ihnen Ihre Phantasie einen Streich gespielt, Frau Rot. Das kann schon mal vorkommen. Man ist in Eile, saust hastig die Treppe hinauf. Der Kreislauf nimmt einem solche Hetze übel, rächt sich mit Schwindelgefühl, Halluzinationen, Sinnestäuschungen.«
Fanni straffte sich. »Ich – habe – mir – das – nicht – eingebildet!« Sie holte Luft und fuhr beherzt fort: »Mir war weder schwindelig, noch hatte ich Halluzinationen. Roland Becker lag genau hier.« Sie deutete auf ihre Fußspitzen. »Und statt da herumzustehen, wo er nun nicht mehr liegt, sollten wir nach ihm suchen. Im Erdgeschoss am besten, denn vermutlich hat er sich abwärtsbewegt, sonst hätten wir ihm ja begegnen müssen.« Rebellisch stiefelte sie die Stufen hinunter.
Der Pflegedienstleiter folgte ihr zögernd.
Fanni verharrte am Ende der Treppe und sah sich um. Rechts zweigte der Gang ab, der zur rückwärtigen Tür führte, durch die man auf den Parkplatz gelangte. Geradeaus ging es an einem Fahrstuhl vorbei zum Schwimmbad, und links gab es einen Flur, von dem aus man die Kapelle, den Haupteingang und das Kaffeestüberl erreichte.
Nirgends befand sich eine Spur, die darauf hindeutete, dass sich hier soeben ein Schwerverletzter mit einer blutenden Wunde in der Brust entlanggeschleppt haben könnte.
Erwin Hanno legte seine massige Hand auf Fannis Arm. »Sie gehen jetzt in das Zimmer Ihrer Tante, und ich schicke Ihnen Schwester Monika mit einer Tasse Baldriantee. Sie müssen sich beruhigen, Frau Rot, mit – ähm – Nervenleiden ist nicht zu spaßen.«
Fanni wollte sich gerade gegen das Wort »Nervenleiden« verwahren, mit dem der Pflegedienstleiter aller Wahrscheinlichkeit nach »Irresein« meinte, da hörte sie ein Rumpeln hinter der mannshohen Topfpflanze, neben der sie stand. Sie machte einen Schritt zur Seite, schaute an der Pflanze vorbei und entdeckte eine unscheinbare Tür, die ihr bisher nie aufgefallen war. An dieser Tür haftete, ein wenig über Fannis Augenhöhe, ein Schild mit der Aufschrift »Aussegnungsraum«, darunter befand sich ein schmales goldenes Kreuz. Fanni glotzte den Schriftzug an und versuchte, sich darüber klar zu werden, was in einem Aussegnungsraum normalerweise vor sich ging. Da hörte sie die Stimme des Pflegedienstleiters in ihrem Rücken.
»Herr Bonner, Amtsrat a. D., der zehn Jahre seines Ruhestands in unserer Residenz verbracht hat, ist gestern verstorben.« Hanno trat neben Fanni und sah auf seine imposante Armbanduhr. »Die Herren vom Bestattungsinstitut wollten ihn zwischen sechzehn und siebzehn Uhr abholen kommen. Der Hausmeister ist wohl gerade dabei, alles dafür vorzubereiten. Anschließend muss der Raum gesäubert werden.«
»Wir sollten vorsorglich nachsehen, ob …«, begann Fanni, verstummte jedoch, als sie Herrn
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