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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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bekommen, oder: »Mit deinem Plattarsch nimmt
dich doch eh keiner.«
    Die Erinnerungen
zogen wie ein Gewitter an ihr vorüber. Und plötzlich begriff Rieke: Nicht sie
trug die Schuld an dem, was geschehen war, nein, ihr Vater hatte sich
versündigt und sie in seinen Sumpf hineingezogen. Wenn er ein ganz normaler
Vater gewesen wäre, wenn er sie nicht jahrelang missbraucht hätte, wäre
vielleicht eine ganz normale Frau aus ihr geworden, die ein ganz normales Leben
führte. Warum hatte sie nur all die Jahre die Schuld bei sich gesucht? Wie
hatte sie ihn verteidigen und sich selbst so verachten können? Warum hatte sie
all seinen Vorwürfen geglaubt? Und warum hatte sie sich nicht schon früher von
all dem hier befreit?
    Er hatte ihr Leben
zerstört, noch ehe es richtig begonnen hatte. Und jetzt wollte er ihr die
letzte Chance nehmen, wenigstens einmal etwas Gutes zu tun.
    Noch nie hatte
Rieke es gewagt, sich offen gegen ihren Vater zu stellen, aber in diesem Moment
brach die jahrelang angestaute Wut so heftig über sie herein, dass sie sich auf
ihn stürzte und mit den Fäusten auf seine Brust, auf seine Schultern, auf jedes
Körperteil trommelte, das irgendwie in ihre Reichweite geriet.
    »He«, rief Dürr
und gab ihr einen Stoß. »Bist du verrückt geworden?«
    Rieke taumelte mit
rudernden Armen zurück, sie stolperte über einen Stein und verlor den Boden
unter den Füßen. Mit dem Hinterkopf schlug sie hart gegen den Kaninchenstall
und blieb bewegungslos liegen.
    »Hör mit den
Spielchen auf«, sagte Dürr und sah wütend auf seine Tochter herab. Im Hinterhof
herrschte eine gespenstische Stille. Nur der Wind strich leise über das Dach.
Verunsichert beugte er sich über sie. »Rieke, steh auf!«
    Seine Tochter
regte sich nicht.
    Dürr schluckte
hart. Eine schreckliche Angst packte ihn. Warum lag sie so leblos da wie eine
Puppe? War sie bewusstlos oder spielte sie ihm nur etwas vor? Oder war sie tot?
Konnte ein so harmloser Stoß so fatale Folgen haben? Hatte er seine Tochter
umgebracht? Ängstlich rüttelte er sie an der Schulter. »Rieke! Rieke!«

Vor der Bellevuestraße 18
    Nach einer
rasanten Fahrt ließ Otto das Rad ausrollen und sah keuchend zu Vitells Villa
hinüber. Was war hier bloß geschehen?
    Der Dachstuhl
stand in Flammen, und aus den Fenstern des Obergeschosses quoll schwarzer
Rauch. Auf dem Grundstück rannten Feuerwehrleute umher und versuchten
verzweifelt, den Brand zu löschen. Vor der Toreinfahrt hatten sich Schaulustige
eingefunden. Auch einige Polizisten standen vor dem Haus. Unter ihnen entdeckte
Otto Wachtmeister Holle, der an der Hausdurchsuchung bei Kriminaldirigent von
Grabow beteiligt gewesen war.
    Otto schob das Rad
zu ihm hinüber und sagte hastig: »Möglicherweise befindet sich noch eine Frau
im Haus.«
    »Das ist
ausgeschlossen, Herr Doktor«, erwiderte Holle. »Im Haus war niemand mehr.
Nachdem wir das Feuer bemerkt hatten, sind wir sofort rein und haben überall
nachgesehen. Wen suchen Sie denn?«
    »Es handelt sich
um Friederike Dürr, eine Zeugin aus dem ersten Kreuzigungsfall. Sie ist
schlank, mittelgroß und hat hellblonde Haare.«
    »Ja, dann war sie
das wohl. Mein Kollege und ich haben eine Frau aus dem Haus laufen sehen, kurz
bevor wir den Brand bemerkten. Sie ist da runter gelaufen, in östliche
Richtung.«
    Die Auskunft
beruhigte Otto vorerst. Rieke war also nicht in dem brennenden Haus
eingeschlossen. »Wir haben übrigens einen Zeugen gefunden, der Vitell belastet.
Sie können ihn jetzt festnehmen.«
    »Das ist leider
nicht möglich. Wir haben zwar gesehen, wie er ins Haus gegangen ist, aber
drinnen konnten wir ihn nirgends finden. Er ist verschwunden.«
    Otto sah zu der
Villa hinüber. Hatte Vitell einen Hintereingang benutzt? Oder gab es andere
geheime Zugänge zu dem Haus? Einen Tunnel vielleicht? Otto fragte Holle, ob er
und seine Kollegen die nähere Umgebung abgesucht hatten.
    »Ja«, sagte Holle,
»aber wir haben nichts gefunden. Wahrscheinlich hat er einfach einen günstigen
Moment abgepasst, um zu verschwinden. Ich muss zugeben, dass wir durch den
Brand abgelenkt waren und das Grundstück nicht die ganze Zeit im Auge behalten
konnten.«
    »Machen Sie sich
keine Vorwürfe«, sagte Otto. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir ihn
erwischen. Herr Funke wird im Übrigen bald hier eintreffen. Bitte richten Sie
dem Commissarius aus, dass ich weiter auf der Suche nach Friederike Dürr bin.
Ich werde als Nächstes zu ihrem Elternhaus fahren.«

Im

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