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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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herab und bemerkte, dass ihr Rock und der
Unterrock immer noch um die Hüften geknotet waren. Ihre Beine waren bis über
die Knie entblößt. Dann sah sie ihren Vater vor sich knien. Er hatte die Hände
vor das Gesicht geschlagen und wiegte den Oberkörper vor und zurück. Weinte er
etwa? Wohl kaum, wahrscheinlich wartete er nur, bis sie wach war, um sie zu
missbrauchen.
    »Was ist los?«,
fragte sie. »Worauf wartest du?«
    »Du lebst ja«,
sagte er. »Ich dachte schon –«
    »Dass ich tot bin?
Ja, das wäre wirklich schade, dann könntest du dich nie wieder an mir
vergreifen.«
    »Wie redest du
denn?«
    »Du denkst doch
seit Jahren an nichts anderes mehr. Du kannst es doch kaum noch erwarten.«
    »Du blutest am
Kopf«, sagte ihr Vater.
    »Jetzt tu doch
nicht so besorgt! Sonst hast du dich doch auch nicht um mich gekümmert. Ein
Wunder, dass du mich nicht vergewaltigt hast, als ich ohnmächtig war.«
    Ihr Vater starrte
auf ihre nackten Beine, dann riss er sich von dem Anblick los und stemmte sich
auf die Füße. Voller Verachtung sah er auf sie herab. »Du hast dich kein
bisschen verändert, du bist immer noch genauso verdorben wie früher. Nach dem
Tod deiner Mutter hätte ich dich gleich in ein Heim geben sollen. Ich habe mich
so bemüht, dass etwas Anständiges aus dir wird, aber du hast immer nur mit
deinem kleinen Arsch gewackelt und mich ganz verrückt gemacht. Du bist schuld
daran, dass es in den letzten Jahren nur noch bergab ging. Wenn du dich damals
nicht so an mich herangemacht hättest, wäre alles noch in Ordnung. Verschwinde
endlich aus meinem Leben, du dreckige kleine Hure!« Er spuckte ihr ins Gesicht,
nahm die Blechbüchse an sich und stapfte zum Haus. Krachend schmiss er die Tür
hinter sich zu.
    Rieke blieb liegen
und wischte sich mit dem Handrücken die Speicheltropfen ab. Sie blickte in den
Himmel, der allmählich heller wurde. In ihr war keine Kraft mehr, um sich gegen
die Vorwürfe ihres Vaters zu schützen. Wieder und wieder hörte sie seine Worte,
sie hagelten so lange auf sie ein, bis sie glaubte, dass er die Wahrheit gesagt
hatte. Ja, sie war verdorben, und ja, alles war ihre Schuld.
    Irgendwie kam sie
auf die Füße, doch als sie stand, wurde sie von einem heftigen Schwindel
erfasst. Übelkeit stieg in ihr hoch, und sie erbrach sich neben den
Kaninchenstall. Nachdem sie sich den Mund abgewischt hatte, blickte sie zum
Haus hinüber, und für einen Moment hatte sie das starke Bedürfnis, zu ihrem
Vater zu gehen und ihn für alles um Verzeihung zu bitten, was sie ihm je
angetan hatte.
    Dann erinnerte sie
sich, wie oft er ihr schon gesagt hatte, dass er sie nicht mehr ertragen könne
und dass er sie nicht mehr wiedersehen wolle. Damit hatte er ihr immer Angst
einjagen und sie gefügig machen wollen. Jetzt durchschaute sie seine Spielchen,
und trotzdem riefen sie nicht nur Widerwillen, sondern auch Schuldgefühle in
ihr hervor.
    Sie machte einen
Schritt auf das Haus zu und blieb stehen. Sie streckte die Hand aus, aber zog
sie sogleich wieder zurück. Plötzlich brach sie in Tränen aus und ließ sich auf
die Knie fallen. Doch dann hatte sie sich wieder im Griff. Sie stand auf. Sie
musste hier weg, sonst würden ihre widerstreitenden Gefühle sie verrückt
machen.
    Hastig stieg sie
auf den Kaninchenstall und kletterte über die Mauer. Dabei schnitt sie sich an
den Scherben, doch sie bemerkte es nicht einmal. Sie lief einfach los und
achtete nicht darauf, welche Richtung sie einschlug. Im Grunde war es ihr egal.
Nirgends gab es einen Ort, an dem sie Unterstützung finden würde. Sie war jetzt
auf sich allein gestellt.
    Die Stadt erwachte
zum Leben. Fensterläden wurden geöffnet, junge Burschen begaben sich mit
Brotdosen auf den Weg zur Arbeit. Rieke nahm das Geschehen wie durch einen
Schleier wahr. Einmal wurde sie von einem älteren Mann angehalten, der besorgt
auf ihre blutenden Hände sah und sie fragte, ob sie Hilfe brauchte, aber sie
antwortete nicht und ging einfach weiter.
    Irgendwann stand
sie auf einer Brücke. Die Sonne ging auf und tauchte das Schloss in einen rosa
Schein. Sie hatte das prächtige Bauwerk immer gemocht und sich häufig
ausgemalt, wie schön die Räume eingerichtet sein mussten. Als sie sich über das
Brückengeländer lehnte, sah sie das dunkle Wasser der Spree unter sich fließen.
    Obwohl sie viele
Jahre davon geträumt hatte, in ferne Länder zu reisen und ein neues Leben
anzufangen, hatte sie Berlin nie verlassen. Aber sie wusste, dass die Spree in
Spandau in

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