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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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Mauer in
den Hinterhof zu klettern.
    Rieke ließ die
Schultern hängen. Die Zuversicht, die angesichts der geglückten Flucht kurz in
ihr aufgeflackert war, hatte auf dem langen Fußmarsch hierher einer tiefen
Resignation Platz gemacht. Während sie durch die nächtlichen Straßen gelaufen
war, war ihr genügend Zeit geblieben, um ihre Situation zu überdenken. Mit
einem erschreckenden Ergebnis: Karl, ihr ehemaliger Beschützer, wollte sie
nicht mehr sehen. Und Otto hatte sie durch ihr Verhalten so bitter enttäuscht,
dass er ihr in Zukunft nur noch mit Misstrauen begegnen würde, wenn er sie
überhaupt noch einmal treffen wollte.
    Rieke hatte das
Ende des Ganges erreicht und trat auf eine kleine Wiese vor dem Abwassergraben.
Der faulige Geruch nach menschlichen Ausscheidungen schlug ihr entgegen. Wenn
sie doch nur mehr Vertrauen gehabt hätte! Wenn sie doch Otto alles gestanden
hätte! Vielleicht hätte er einen Ausweg gewusst. Noch immer begriff sie nicht,
was sie an jenem Morgen aus seinem Haus getrieben hatte, was sie dazu bewogen
hatte, Karl von ihren Gefühlen zu erzählen und Rat bei ihm zu suchen. War es
ein letzter Rest Loyalität gewesen? Die Angst vor dem Ende ihrer langjährigen
Schicksalsgemeinschaft? Oder hatte sie sich angesichts von Ottos Ehrlichkeit
und Großherzigkeit seiner unwürdig gefühlt?
    Rieke zitterte am
ganzen Leib. Am liebsten würde sie sich in seine Arme flüchten, ihren Kopf an
seine starke Brust lehnen und seinen Herzschlag spüren. Er war der
aufrichtigste Mann, dem sie jemals begegnet war. Er hatte sie nie zu etwas
gezwungen, er hatte sie nie bewertet oder Forderungen an sie gestellt. Er hatte
sie einfach gewähren lassen, und er hatte sie so genommen, wie sie war.
    Sicherlich, zuerst
hatte sie ihm nur etwas vorgespielt, aber mit jeder Begegnung war ihre
Zuneigung gewachsen. Bald hatte ihr ganzes Denken um ihn gekreist. Ihr Herz
hatte vor Freude, Nervosität und Aufregung geflattert, wenn sie sich getroffen
hatten. So verliebt war sie nur in Jonas gewesen, aber da war sie noch ein
halbes Kind gewesen. Und jetzt hatte sie ihn so bitter enttäuscht. Alles war
vorbei, noch ehe es richtig begonnen hatte.
    Rieke ließ ihren
Tränen freien Lauf und dachte an ihr verfahrenes Leben, an ihre liebe Mama und
die verlorene Chance.
    Der einzige Mann,
der sich jetzt noch für ihr Schicksal interessierte, war ihr Vater. Doch er
dachte nur an sich. Die Fähigkeit, sich in jemand anderen hineinzuversetzen und
ihm helfend unter die Arme zu greifen, ging ihm völlig ab. Auf zärtliche Gesten
hatte er stets mit Grobheiten reagiert. Zu ihm zurückkehren, ihm den Haushalt
führen und den Nachbarn eine heile Welt vorspielen, das konnte sie nicht. Denn
sobald ihr Vater erfuhr, dass Karl sie nicht mehr beschützte, würde er auf sein
»Recht« pochen. Doch nach all den Jahren würde sie seinen keuchenden
Zwiebelatem und seine krankhafte Eifersucht nicht mehr ertragen. Lieber würde
sie sterben.
    Mit dem Handrücken
wischte sie die Tränen aus ihrem Gesicht und blickte zum Haus. Selbst wenn Otto
ihr eines Tages verzeihen würde, war sie vorerst auf sich allein gestellt. Was
sollte sie nur tun? In ihrem ganzen Leben hatte sie bestenfalls Wünsche
geäußert. Entscheidungen hatten immer andere für sie getroffen. Gab es für sie
überhaupt eine Zukunft?
    Wieder erfassten
sie Mutlosigkeit und Traurigkeit. Sie wusste schon jetzt, dass es nirgends auf
der Welt einen Ort gab, an dem sie es lange mit sich aushalten würde. Für all
ihre Schwächen, Fehler und Sünden verachtete sie sich selbst am meisten. Früher
oder später musste auch jedem anderen Menschen auffallen, was für ein
verdorbenes und charakterloses Geschöpf sie war.
    Plötzlich hatte
sie eine erlösende Idee. Was, wenn sie einmal in ihrem Leben etwas Sinnvolles
tat? Wenn sie das Geld nicht für sich verwendete, sondern es Bedürftigen
zukommen ließ? Sie hatte von einem Heim gehört, das junge Mädchen und Frauen
aufnahm, die von zu Hause geflohen waren. Ihnen wollte sie einen Neubeginn
ermöglichen, ihnen wollte sie helfen, noch einmal von vorn anzufangen.
    Und dann?
    Was dann kam, war
nicht wichtig, weil sie nicht wichtig war.
    Auf einmal war sie
ganz ruhig. Sie suchte die Wiese ab, bis sie auf eine Kiste stieß, die sie in
den Gang trug und unter die Mauer stellte. Rock und Unterrock knotete sie um
die Hüften und kletterte hinauf. Jetzt konnte sie die Scherben auf der Mauer
gut erkennen. Vorsichtig tasteten ihre Hände nach einem Zwischenraum.

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