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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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Tunnel
    Trotz der
Verwirrung, die Rieke gestiftet hatte, hatte sich Vitell entschlossen, den Plan
zu vollenden. Morgen würde sich der Liebenberger Kreis, der engste
Freundeskreis des Kaisers, auf dem brandenburgischen Landsitz des Grafen zu
Eulenburg und Hertefeld treffen. Die Erschießung von Wilhelm II ., scheinbar durch einen Sozialisten, würde die
konservativen Kräfte und die Arbeiterschaft endgültig gegeneinander aufbringen.
Es würde zu blutigen Ausschreitungen kommen, und am Ende würde sich bestätigen,
was sowieso alle Welt wusste: Gewalttätig und kopflos, wie sie waren, würden
die Proletarier niemals in der Lage sein, eine verantwortliche Rolle in diesem
Staat zu übernehmen. Gewerkschaften, Arbeitervereine und auch die Partei würden
für alle Zeiten als Keimzellen von Chaos und Unruhe gelten. Die
Wiedereinführung eines verschärften Sozialistengesetzes war dann nur noch eine
reine Formsache. Und die einfachen Arbeiter würden endlich wieder auf ihre
wahren Herren, auf die Unternehmer, hören. Die Welt wäre wieder in Ordnung.
    In dem schmalen
Tunnel, der von seinem Haus in den Tiergarten führte, tropfte Wasser von der
Decke, und es roch nach feuchter Erde. Jewgeni kroch auf allen vieren voran und
leuchtete ihnen mit einer Laterne den Weg. Auf seinem Rücken trug er einen
Rucksack, der mit Goldmünzen, Diamanten und Wertpapieren gefüllt war. Außerdem
hatte er ein englisches Präzisionsgewehr dabei. Es war bei Großwildjägern sehr
beliebt und verfügte nicht nur über eine große Reichweite, sondern auch über
eine enorme Durchschlagskraft. Einen Schuss aus dieser Waffe würde der Kaiser
nicht überleben.
    In weiser
Voraussicht hatte Vitell alle Vorbereitungen für seine Flucht schon vor Wochen
getroffen. Eigentlich war er sehr zuversichtlich, sein Ziel zu erreichen,
allerdings musste sein Körper mitspielen. Sein physischer und sein psychischer
Zustand hatten sich drastisch verschlechtert. Zu seinen üblichen Gelenk- und
Gliederschmerzen kam die angebrochene Rippe, die ihm das Atmen erschwerte. Seit
Stunden hatte er nichts mehr gegessen, und er fühlte sich nach dem letzten
Anfall im Tiergarten entkräftet. Er hörte ein leises Singen in seinen Ohren,
und er bildete sich ein, dass große Kakerlaken aus den Tunnelwänden kriechen
und ihm in Mund, Nase oder die Gehörgänge krabbeln würden. Zwar wusste er, dass
die Insekten nur in seinem Kopf existierten, die Vorstellung raubte ihm dennoch
den letzten Nerv.
    Er brauchte
dringend Morphium.
    »Jewgeni, warte«,
sagte er und nahm seinen eigenen Rucksack ab. Er öffnete ihn und zog ein Buch
von Karl Marx sowie mehrere ältere Ausgaben von »Der Sozialdemokrat« heraus,
die er wieder in der Nähe des Tatortes deponieren wollte. Dann stieß er auf die
Morphiumlösung, das Kokain und mehrere Spritzen. »Ich brauche mehr Licht«,
sagte er, zog sein Jackett aus und legte seinen Unterarm frei. »Leuchte mir mit
der Laterne!«
    »Herr«, sagte
Jewgeni, »Sie sollten lieber etwas essen. Ich habe einen Apfel und ein
Butterbrot dabei. Wenn Sie –«
    »Ich brauche kein
Butterbrot«, sagte Vitell barsch und band seinen Oberarm ab. Normalerweise
spritzte er das Morphium zwar in die Bauchdecke, weil es so länger wirkte, aber
auf diesem Weg konnten bis zu zwanzig Minuten vergehen, bis sich die Droge im
Körper verteilte. Deshalb wollte er das Morphium nun direkt in die Vene
spritzen. Dann würde sich sein Zustand hoffentlich bald bessern. Für einen
Moment überlegte er, ob es zu früh war, ob zu wenig Zeit nach seiner letzten
Kokaininjektion vergangen war, aber er fühlte sich so elend und er hatte sich
vorher sowieso nur eine geringe Dosis gespritzt. Also tauchte er die Kanüle in
die wässrige Lösung und zog den Kolben hoch. Dann stach er in die Vene und
spritzte sich das Morphium. Er lehnte sich an die Wand und wartete. Jetzt
würden seine Schmerzen gestillt werden, und die Euphorie würde seinen Körper
durchströmen. Doch zu seinem Erstaunen wurde ihm übel. Sein Herz flatterte
plötzlich und geriet stolpernd aus dem Takt. Sein Atem verlangsamte sich, seine
Kehle verengte sich, und er hatte Probleme, Luft zu bekommen. Obwohl er an der
Wand lehnte, hatte er das Gefühl, nach hinten zu kippen und ins Bodenlose zu
stürzen. Er ruderte mit den Armen und suchte nach einem Halt, aber alles um ihn
herum entfernte sich rasend schnell und wurde immer kleiner.
    Dann sah er nichts
mehr.

Auf dem Weg zur Spree
    Als Rieke zu sich
kam, blickte sie verwirrt an sich

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