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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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die Havel floss, dass die Havel ein Nebenfluss der Elbe war und dass
die Elbe bei Cuxhaven in die Nordsee mündete. Der Fluss erschien ihr plötzlich
wie die letzte Möglichkeit, von hier fortzukommen; er war wie ein stummer
Freund, der nicht fragen würde, woher sie kam oder wohin sie wollte. Er würde
sie einfach mitnehmen.
    Sie kletterte auf
das Brückengeländer und dachte an Otto. Bitte verzeih mir, dass ich dir
wehgetan habe.
    Dann ließ sie sich
in die Tiefe fallen.

Auf der Kaiser-Wilhelm-Brücke
    Otto schob sein
Rad an der Universität und dem Zeughaus vorüber. Obwohl er zu dieser frühen
Morgenstunde nicht mit Unter den Linden patrouillierenden Gendarmen rechnete,
wollte er kein Risiko eingehen. Von einer Zelle im Untersuchungsgefängnis aus
werde ich Rieke nicht helfen können, dachte er und überquerte die
Schlossbrücke.
    Als er den
Lustgarten passierte, hörte er eine Semmelfrau laut rufen und sah sie aufgeregt
in eine Richtung deuten. Otto blickte zur Kaiser-Wilhelm-Brücke und sah eine
Frau auf dem Geländer stehen. Sie hatte hellblonde Haare und sah aus wie Rieke.
Nein, dachte er dann, das ist Rieke.
    Instinktiv wusste
Otto, was sie vorhatte, und reagierte sofort. Er stieß das Fahrrad von sich und
rannte los. »Rieke!«, schrie er. »Tu das nicht.« Sie schien ihn jedoch nicht zu
hören. Sie schien überhaupt nichts mehr von dem wahrzunehmen, was um sie herum
geschah.
    Dann ließ sie sich
fallen.
    Bis zur Brücke
waren es noch zwanzig Meter. Otto hatte plötzlich furchtbare Angst, dass er zu
spät kommen könnte. Er rannte weiter. Seine Beine griffen immer weiter aus,
dann endlich hatte er das Geländer erreicht. Er sprang hinauf und hechtete
kopfüber ins Wasser. Er tauchte unter, versuchte, sich zu orientieren, und
dachte: Verdammt, ich kann nichts sehen! Wo ist sie?

Drei Monate später

In »Klein-Sanssouci«
    Otto stand im
Ankleidezimmer vor dem großen Spiegel und rückte den Langbinder zurecht. Als er
einen Schritt zur Seite trat, spürte er einen schmerzhaften Stich in der Wade.
Dieser Muskelkater!
    Wie so oft in den
vergangenen Monaten hatte er auch gestern viele Stunden auf der Radrennbahn und
dem Rover-Trainier-Apparat zugebracht. Das intensive Training hatte ihm
geholfen, Ordnung in seine Gefühle zu bringen und eine Entscheidung zu fällen.
    Als es zaghaft an
der Tür klopfte, rief er »Herein«, und Lina trat ein.
    »Die Seekoffer
sind verladen«, sagte sie. »Ihr Bruder lässt fragen, ob Sie ihn in die Stadt
begleiten wollen. Er wartet unten auf Ihre Antwort.«
    »Richte ihm bitte
aus, dass wir uns erst am Abend treffen. Ich habe noch etwas zu erledigen.«
    Das Dienstmädchen
nickte, senkte verlegen den Kopf und sagte: »Sie werden uns fehlen, Herr
Doktor. Und passen Sie bloß auf, dass Ihnen nichts zustößt.«
    Otto bedankte sich
herzlich für ihre lieben Worte, zog sein Jackett über und trat ans Fenster. Auf
dem See waren nun schon lange keine weißen Segel mehr zu sehen. Die Bäume waren
kahl, und vereinzelt wirbelten braune Blätter durch die Luft. Der Himmel
schöpfte aus seinem unendlichen Reservoir an Regen. Doch trotz des trüben
Novemberwetters und obwohl der Innenstadtbereich noch immer nicht für den
Zweiradverkehr freigegeben worden war, hatte sich nach den turbulenten
Augusttagen vieles zum Guten gewendet.
    Moses' jugendliche
Aufsässigkeit klang allmählich ab. In den letzten Wochen hatte er Otto in
vielen schwierigen Momenten zur Seite gestanden. Außerdem hatte er sich
entschlossen, sein Abitur zu machen. Danach wollte er in die Fußstapfen seines
Dienstherrn treten und an der Berliner Universität ein Medizinstudium beginnen.
    Ferdinand hatte
endlich ein lukratives Patent angemeldet. Es handelte sich um einen speziellen
Schreibstift, der sich zur Markierung von Leder und Stoffen eignete und der von
einem hiesigen Industriebetrieb in immer größeren Stückzahlen produziert wurde.
Bei den Schneidereien gab es eine große Nachfrage nach dem Stift, und
mittlerweile wurde er ins gesamte Reichsgebiet verkauft.
    Nachdem Otto und
der Commissarius den Preußischen Königlichen Kronenorden für ihre Verdienste
erhalten hatten, hatte sich eine intensive Freundschaft zwischen ihnen
entwickelt. Oft leerten sie die eine oder andere Flasche Wein in
»Klein-Sanssouci« und diskutierten dabei einen Mordfall, ein Täterprofil oder
die Auswertung von Indizien bis in die Nacht hinein – natürlich im Einvernehmen
mit dem Polizeipräsidenten von Richthofen, der die Hinzuziehung von

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