Mord unter den Linden (German Edition)
Mit
ganzer Kraft stemmte sie sich hoch, ignorierte den Schmerz in ihrem gebrochenen
Finger, suchte Halt an einem vorspringenden Backstein und schaffte es
irgendwie, ein Knie auf die Mauer zu setzen. Sie zog das andere Bein nach und
richtete sich langsam auf. Ängstlich spähte sie in die Tiefe.
Mit ausgestreckten
Armen balancierte sie Richtung Haus. Sie trat sehr behutsam auf, um keinen Lärm
zu machen, doch trotzdem zerbrachen einige Scherben knirschend unter ihr. Der
Abstieg gestaltete sich einfacher als gedacht: Sie kletterte von der Mauer auf
den Kaninchenstall und von dort auf einen Bretterstapel. Sie sprang einen
knappen Meter hinab und lief dann zu der Stelle, wo sie das Geld vergraben
hatte. Hastig tastete sie den Boden ab, schaufelte lockere Erde beiseite und
barg endlich die Blechbüchse. Sie hob den Deckel an und stellte erleichtert
fest, dass nichts fehlte. Sie blickte zum Himmel und dachte: Dieses Mal
enttäusche ich dich nicht, Mama. Dieses Mal kannst du dich auf mich verlassen.
Rieke stemmte sich
auf die Füße. Bisher war es im Haus ruhig geblieben. Jetzt musste sie nur noch
verschwinden. Schon legte sie die Blechbüchse auf das Dach des Kaninchenstalls,
als in ihrem Rücken geräuschvoll die Tür zum Hof aufflog.
»Halt!«, rief ihr
Vater. »Wer ist da?«
Rieke fuhr herum.
Ihr Vater kam mit
großen Schritten heran und blieb vor ihr stehen. Er trug Nachtzeug, und seine
Füße steckten in Holzpantinen. In den Händen hielt er seine alte Flinte, der
rechte Zeigefinger lag auf dem Abzug. Unterschiedliche Gefühlsregungen
spiegelten sich in seinem Gesicht: erst der Zorn über einen nächtlichen
Eindringling, dann plötzliches Erkennen und eine beinahe kindliche Freude, dass
Rieke vor ihm stand, und schließlich die Gier eines Mannes, dessen brennendes
Verlangen jahrelang keine Befriedigung ge- funden hatte.
»Warum kletterst
du über die Mauer?«, fragte Dürr. »Warum benutzt du nicht die Haustür?«
Rieke brachte
keinen Ton heraus. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, das bei etwas
Schlimmen ertappt worden war.
»Wo warst du die
ganze Zeit? Warum hast du dich nicht gemeldet? Die Leute vom Theater waren
hier. Angeblich hast du mehrere Vorstellungen versäumt. Ich hab mich gesorgt!«
Noch immer sagte
Rieke nichts. Sie hatte keine Kraft, ihm zu antworten.
»Hast du dich
wieder mit den Saujuden rumgetrieben? Wie oft hast du die Beine breitgemacht?
Fünfmal, zehnmal? Nun rede schon!« Ihr Vater steigerte sich in eine rasende Wut
hinein. Rieke kannte das. Jahrelang hatte er ihr haltlose Vorwürfe gemacht, um
sie zu züchtigen und dann zu missbrauchen.
Rieke überwand
ihre Angst. Seine Tiraden durften sie nicht einschüchtern. Noch fürchtete er
Kommerzienrat Karl Vitell so sehr, dass er es nicht wagen würde, sich an ihr zu
vergehen. Also gut, dachte sie. Ich schnappe mir die Blechbüchse und
verschwinde.
Ihr Vater stieß
sie mit der flachen Hand an der Schulter. »He, ich rede mit dir. Was hast du da
überhaupt?«
»Das geht dich
nichts an«, sagte Rieke und umklammerte die Blechbüchse mit beiden Händen.
»Und ob mich das
was angeht. Ich will sofort wissen, was das ist.«
»Nein«, rief Rieke
und wehrte sich nach Leibeskräften, aber ihr Vater riss ihr die Blechbüchse aus
den Händen. Fassungslos beobachtete sie, wie er den Deckel hob und das Geld
zählte.
»Das ist also dein
Hurenlohn«, sagte er.
»Gib mir die Dose
zurück!«
»Nein, nein, mein
Fräulein. Das wird dein Beitrag zur Haushaltskasse sein.«
Auf einmal war
Rieke so wütend, dass sie kaum noch Luft bekam. Vor ihrem geistigen Auge zogen
all die schlimmen Bilder vorbei. Sie sah, wie ihr Vater sie zum ersten Mal
brutal vergewaltigt hatte; sie sah, wie er sie später mit Vorwürfen
überschüttet hatte, wie er ihr alle Schuld gegeben hatte, als sie, selbst fast
noch ein Kind, schwanger geworden war. Sie sah, wie er ihr zur Schule, zum
Wochenmarkt und zur Bibelstunde gefolgt war, wie er Mitschüler, den Pastor,
Lehrer und Nachbarn verdächtigt hatte, ein Verhältnis mit ihr zu haben, wie er
ihre Unterwäsche nach Samenrückständen untersucht hatte, wie er stets eine
Gegenleistung von ihr gefordert hatte, wenn sie einen bescheidenen Wunsch
geäußert hatte. Sie hörte seine Stimme, wenn er scheinheilig verlangt hatte: »Wenn
ich dir Geld für den Zirkus geben soll, musst du auch lieb zu mir sein …«,
oder wenn er sie beleidigt hatte. »Wo willst du denn mit deinen krummen Beinen
hin?«, hatte sie dann zu hören
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