Mord unter den Linden (German Edition)
Briefe,
Muscheln, Schlittschuhe, Gedichtbände und bestickte Taschentücher kamen zum
Vorschein. Otto nahm sie heraus und entdeckte schließlich auf dem Boden der
Kiste, wonach er gesucht hatte. Er griff nach der Fotografie, setzte sich auf
den Hosenboden und lehnte den Rücken an einen Holzbalken. Obwohl der Tag schon
viele Jahre zurücklag, stieg die Erinnerung so klar in ihm auf, als wäre es
erst gestern gewesen.
Seit Wochen hatte
es geregnet. Hand in Hand waren sie über eine Pfütze gesprungen und hatten das
Atelier erreicht. Keuchend und lachend hatten sie den Fotografen um ein
Handtuch gebeten, um sich die Gesichter abzutrocknen. Sie war so anmutig
gewesen, als sie ihre Haare mit den Händen geglättet und ihn gefragt hatte, ob
mit ihrer Frisur alles in Ordnung sei.
Damals war er noch
von jenem Gefühl durchdrungen gewesen, das nur junge Männer kennen, die noch
keine Niederlage erlitten haben, die auf der Straße des Sieges voranschreiten
und nicht für möglich halten, dass sich daran jemals etwas ändern könnte.
Voller Stolz hatte er in die Kamera geblickt – der zukünftige Ehemann, der
junge, talentierte Wissenschaftler. Er war davon überzeugt gewesen, dass die
Welt nur auf ihn gewartet hatte. Wie sehr er sich doch getäuscht hatte.
Behutsam strich er
über ihr Gesicht. Ihre Lippen bildeten eine weiche, geschwungene Linie, und
ihre Augen blickten groß und fragend in die Kamera. Nein, er hatte sich nicht
geirrt. Die Ähnlichkeit war frappierend. In der gleichen Haltung, mit fast
identischer Kleidung und einem ähnlichen Gesichtsausdruck hatte die Zeugin
Friederike Dürr heute im Polizeipräsidium vor ihm gesessen. Wollte eine höhere
Macht prüfen, ob er einer Bewährungsprobe standhielt? Wollte sie testen, ob er
das Leben trotz einer Begegnung wie dieser zu schätzen wusste? Eigentlich war
Otto zu sehr Wissenschaftler, um an höhere Mächte zu glauben, aber ein letzter
Funken Unsicherheit blieb.
Oder war die
Ähnlichkeit lediglich Zufall? Waren beide Frauen einfach nur in einem streng protestantischen
Haushalt aufgewachsen und teilten die Vorliebe für schwarze Kleidung, silberne
Ketten und fromme Gebärden?
Otto spürte, wie
seine Aufregung etwas nachließ. Ja, dachte er, ein Zufall, was sollte es sonst
sein.
Im Haus von Eberhard Dürr
Nur einen Tag
später begab sich Otto in den Osten der Stadt, der vor allem von Arbeitern
bewohnt wurde. Er stellte sich vor das Dürr'sche Haus und betrachtete nervös
die Fassade. Der Putz war von den Frösten der vergangenen Jahre so angegriffen,
dass er an vielen Stellen abblätterte. Über der speckigen Holztür thronte das
Drechslerwappen mit seinen zwei Meißeln, dem Außentaster und der Kugel, dem
Symbol für die Perfektion.
Otto prüfte, ob
sein Binder korrekt saß, und strich die Ärmel seines Jacketts glatt. Ich bin in
einer amtlichen Angelegenheit hier, redete er sich dabei ein. Nun ja, zumindest
in einer mehr oder weniger amtlichen Angelegenheit, denn abgesprochen hatte er
sein Vorgehen nicht mit Funke.
Ein letztes Mal
füllte Otto seine Lungen mit Luft, dann stieg er die ausgetretenen Steinstufen
empor. Doch noch ehe er den Türklopfer betätigen konnte, steckte Friederike
Dürr den Kopf hinaus und sagte verlegen: »Ich habe Sie durchs Fenster gesehen.
Sicher haben Sie noch Fragen zum Tod von Elvira. Kommen Sie doch herein, Herr
Doktor.«
»Zu gütig«, sagte
Otto, setzte seinen Zylinder ab und klemmte ihn unter die Achsel. Er trat in
den Flur und nahm seine Umgebung in Augenschein. Steinfliesen bedeckten den
Fußboden. Eine wacklige Stiege führte zum Obergeschoss hinauf. Links von ihm
befand sich die Werkstatt, wo mehrere Drehbänke standen. Rechts lag offenbar
die Küche, aus der es nach Kohlsuppe roch. An der Wand neben der Eingangstür
hing ein Öldruck, auf einem Holzschild darunter stand: »Lot mit seinen
Töchtern«.
»Mein Vater isst
gerade zu Mittag«, sagte Friederike Dürr. »Wir lassen ihn besser in Ruhe.
Kommen Sie. Wir können uns im Hof unterhalten.«
Er folgte ihr und
trat durch eine kleine Tür nach draußen. Der Hof war ungefähr zehn mal zwanzig
Meter groß. Eine hohe Mauer, gekrönt mit Glasscherben, umschloss ihn und sollte
wohl freche Diebe abschrecken, den Pflaumenbaum zu plündern. Hinter der Mauer
ragten Fabrikschlote in den Himmel und spuckten Rauch aus. In einer Ecke des
Hofs standen ein Kaninchenstall und einige verwitterte Holzbalken.
Erst jetzt
erlaubte sich Otto, Friederike Dürr genauer zu betrachten. Wie
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