Mord unter den Linden (German Edition)
einzuschreiten, wenn
sozialdemokratische Tendenzen entdeckt worden wären. Wenn sich nun die Arbeiter
angesichts der Kreuzigungen und der anarchistischen Umtriebe erneut
zusammenrotten, kann es zu einem blutigen Bürgerkrieg kommen, bei dem am Ende
niemand gewonnen haben würde.«
»Ich wusste nicht,
dass es so ernst ist«, sagte der Commissarius betroffen.
»Im Moment scheint
ja noch alles unter Kontrolle zu sein«, beruhigte ihn der Graf schnell, »aber
Vorsicht ist bekanntlich besser als Nachsicht. Sie dürfen mich nicht falsch
verstehen. Seine Majestät sind ein grundgütiger Mensch, dem das Wohl seiner
Untertanen am Herzen liegt und der sich selbst als roi des
gueux , als König der Bettler, versteht, aber Seine Majestät sind auch
ein erklärter Feind der Sozialdemokratie, und ich möchte mir nicht vorstellen,
was geschehen würde, wenn die Sozialdemokraten auf die Barrikaden gehen.«
»Bitte richten Sie
Seiner Majestät aus, dass wir unser Bestes geben werden, um den Attentäter und
den Mörder der beiden Frauen so schnell wie möglich dingfest zu machen«, sagte
der Commissarius.
»Seine Majestät
werden sich freuen, dies zu hören. Sollte Ihnen eine schnelle Aufklärung
gelingen, wären Seine Majestät sogar geneigt, seine besondere Wertschätzung
durch die Verleihung des Preußischen Königlichen Kronenordens zu bezeugen.«
»Das wäre eine
große Ehre«, sagte der Commissarius ergriffen.
Otto erkannte
hingegen, dass das hier eine einmalige Gelegenheit war. Soweit er wusste, war
der Kaiser ein Freund von Leibesübungen und Körperertüchtigung. »Es gibt da
etwas«, sagte er langsam, »was mir fast ebenso viel bedeuten würde wie ein
Orden aus der Hand Seiner Majestät. Vielleicht könnten Seine Majestät sich
diesem Anliegen annehmen, wenn wir die Aufgabe zu seiner Zufriedenheit erledigt
haben.«
»Wovon sprechen
Sie?«, fragte der Graf.
»Seine Majestät
würden sich nicht nur meine, sondern die ewige Dankbarkeit aller Radsportler
sichern, wenn er den Innenstadtbereich für den Zweiradverkehr freigeben würde.«
»Ich werde sehen,
was sich machen lässt«, erwiderte der Graf und verabschiedete sich von Otto und
Commissarius Funke. Die beiden begaben sich wieder zu den Droschken.
»Ich melde mich
bei Ihnen«, sagte der Commissarius, »sobald sich etwas Neues ergibt. Und bitte
geben Sie mir Bescheid, wenn Ihnen etwas einfällt.«
»Sehr gern«,
erwiderte Otto und schüttelte die ihm dargebotene Hand. Nachdem er seine
Kutsche bestiegen und sich gesetzt hatte, gab er dem Kutscher das Zeichen zum
Aufbruch. Als der Wagen anfuhr und Otto einen letzten Blick auf das Jagdschloss
warf, kamen ihm Zweifel. War er möglicherweise zu dreist mit seiner Forderung
gewesen? Sein vorschnelles und unüberlegtes Handeln konnte durchaus einen
gegenteiligen Effekt haben, und vielleicht hielt der Kaiser nun erst recht am
Fahrverbot für Zweiräder fest. Andererseits wähnte Otto sich im Recht. Er
empfand es als unfair, dass den Zweiradfahrern so viele Straßen verboten waren,
während die Bestimmungen für die Dreirad- und Vierradfahrer lockerer gefasst
waren. Und eine Gelegenheit, um an höchster Stelle auf diesen Missstand
aufmerksam zu machen, würde wohl so schnell nicht wiederkommen.
Als Otto wenig
später die Eingangshalle von »Klein-Sanssouci« betrat, versuchte er sich mit
dem Gedanken zu trösten, dass man einmal Geschehenes nicht mehr rückgängig
machen konnte. Manchmal blieb einem eben nichts anderes übrig, als alles auf
eine Karte zu setzen. Mit einem Seufzer stellte er den kleinen Handreisekoffer
ab und knöpfte sein Jackett auf.
»Herzlich
willkommen«, sagte das Dienstmädchen knicksend und reichte ihm die Post. »Wir
haben Ihnen ganz fest die Daumen gedrückt und uns sehr über Ihr Telegramm
gefreut.«
»Danke«, erwiderte
Otto lächelnd. »Und richte meinen Dank auch den anderen aus. Ich komme später
in die Küche und erzähle euch genau, wie alles gelaufen ist. Jetzt könnte ich
allerdings erst einmal einen kleinen Imbiss vertragen.«
»Sehr wohl«, sagte
das Dienstmädchen und wandte sich Richtung Küche.
Rasch ging Otto
die Briefe durch. Ein Kuvert enthielt die Billetts für Buffalo Bill's Wild West
Show, mit denen er Moses überraschen wollte. Außerdem stieß er auf einen Brief
von Ferdinands Vermieterin, die ihn um die Begleichung der Mietschulden für die
letzten fünf Wochen bat. Zuletzt öffnete er einen lavendelfarbenen Umschlag, in
dem eine nach Veilchen duftende Nachricht steckte:
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