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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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dauerte nicht
lange, bis sich Schritte näherten. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und
die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Eine alte Hausangestellte hielt eine
Petroleumlampe in die Höhe. Ihr verrunzeltes Gesicht leuchtete im gelblichen
Schein. »Was wollen Sie?«
    »Ich bin
Commissarius Funke, und das sind meine Männer. Wir müssen in einer dienstlichen
Angelegenheit mit dem Herrn Kriminaldirigenten sprechen.«
    Die alte Frau
schlurfte davon.
    Kurz darauf
erschien der Kriminaldirigent. In seinem langen weißen Nachthemd und dem
gestreiften Morgenmantel, mit seiner schwarzen Nachtmütze und dem Vollbart sah
er aus wie ein ägyptischer Teppichhändler. Er wirkte matt und zerschlagen.
»Wissen Sie, wie spät es ist?«, fragte er müde.
    Wortlos reichte
der Commissarius seinem Vorgesetzten das amtliche Schreiben.
    Der
Kriminaldirigent wies das Papier zurück. »Ohne Lupe kann ich nichts lesen.«
    Der Commissarius
holte tief Luft. »Das ist ein Durchsuchungsbefehl. Außerdem bitte ich Sie, uns
später ins Präsidium zu begleiten.«
    »Soll das ein Witz
sein?«
    Kommerzienrat
Vitell schob sich an den Polizisten vorbei nach vorn. »Lassen Sie die Männer
ihre Arbeit tun, und in einer Stunde ist der Spuk vorbei.«
    »Vitell? Sie sind
auch dabei?« Der Kriminaldirigent blickte von einem zum anderen. »Ich verlange
eine Erklärung.«
    »Was ist das für
ein Raum?« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger deutete der Commissarius auf eine
Tür, die sich links hinter seinem Vorgesetzten befand.
    »Das geht Sie
einen feuchten Kehricht an«, sagte von Grabow.
    Funke erwiderte
bemüht sachlich: »Würden Sie Ihrem Hausmädchen bitte auftragen, dass Sie Ihre
Gattin, Ihre Töchter und die Dienerschaft wecken soll? Sie alle sollen sich in
diesem Raum einfinden.«
    »Halt«, sagte von
Grabow. »Ich will endlich wissen, was hier los ist.«
    Otto hatte den
Kriminaldirigenten während des Gesprächs genau beobachtet. Jetzt hatte er
keinen Zweifel mehr. Sein Gesicht war das Gesicht des Gewaltverbrechers par
excellence. Die aufgetriebene Stirnhöhle, der gewölbte Augenbrauenbogen und die
starke Ausbildung des Stirnrandes schienen aus einem Lehrbuch von Cesare
Lombroso zu stammen. Die deutlich ausgeprägten Stirnwülste gingen bei von
Grabow mit buschigen Augenbrauen einher, die seinem Gesicht den barbarischen
Ausdruck verliehen, der nach der kriminalanthropologischen Lehre bei
Verbrechern besonders häufig anzutreffen war. Sogar die Schädelmaße stimmten
ungefähr.
    Normalerweise
stand Otto den Ergebnissen von Cesare Lombroso und seinen Anhängern kritisch
gegenüber, weil sie von dem Geheimen Sanitätsrat Baer nicht bestätigt worden
waren. Der Oberarzt am Strafgefängnis Plötzensee hatte in einer umfassenden
Studie herausgefunden, dass bei den Gefangenen die Glabella durchaus nicht tief
liegend sei und das Auge gar nicht oder nur wenig beschattet sei. Trotzdem ließ
Otto die kriminalanthropologische Klassifizierung zuweilen als ersten
Orientierungspunkt gelten. Die weitere phänomenologische Untersuchung musste
ihn dann widerlegen oder bestätigen.
    Bei
Kriminaldirigent von Grabow deuteten auch noch andere Merkmale auf eine
gewalttätige Veranlagung hin. Nur seine Stimme, dieses hohe, ätzende Organ,
passte nicht in das Profil eines grausamen Mörders.
    »Sie werden
verdächtigt, Elvira Krause getötet zu haben«, sagte der Commissarius. »Jetzt
machen Sie endlich den Weg frei.«
    »Was? Elvira!
Ich?«, sagte von Grabow. »Das kann nicht sein!«
    »Wir wissen, dass
Sie mit der jungen Frau bekannt waren. Außerdem hatten Sie kurz vor ihrem Tod
einen heftigen Streit mit ihr.«
    »Das ist ein
unglücklicher Zufall, Funke. Ein Missverständnis. Ich hab das arme Mädchen
nicht getötet. Sie kennen mich doch! Glauben Sie, dass ich zu einer solchen Tat
imstande wäre?«
    »Einen Glauben
kann ich mir in diesem Beruf nicht leisten. Das müssten Sie eigentlich wissen.
Ich muss mich an die Fakten halten.«
    Der Commissarius
gab den Polizisten ein Zeichen, dass sie ins Haus gehen sollten. Die Männer
schoben sich behutsam am Kriminaldirigenten vorbei. Sie hielten die Köpfe
gesenkt und mieden den Augenkontakt. Ihnen war nicht wohl in ihrer Haut. Auch
wenn Polizeipräsident von Richthofen die Verantwortung für die Hausdurchsuchung
trug, fürchteten sie offenbar Repressalien durch von Grabow.
    Plötzlich streckte
der Kriminaldirigent seinen Arm aus, hielt Otto fest und sagte: »Halt! Dieser
Mann tritt nicht über meine

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