Mord zur Bescherung
noch nicht ganz verwunden. Sie hatte fast den ganzen Tag lang betrübt ausgesehen.
»Sie werden am Empfang erwartet«, flüsterte ihr Honey ins Ohr.
Mrs. Finchley erkundigte sich nicht, von wem sie erwartetwurde. Sie leistete auch keinen Widerstand. Es war, als bewegte sie sich automatisch. Ihr Körper reagierte unabhängig vom Gehirn.
Honey führte sie vom Empfang in die Bar. Mrs. Finchley erhob keine Einwände. Sie war sehr viel zahmer geworden. Aber sympathischer war sie Honey deswegen nicht. Sie war ganz bestimmt keine Teamspielerin, hielt sich für etwas Besseres als ihre Kolleginnen und Kollegen und schaute hochnäsig auf sie herab.
Auch ihr Kleidungsstil half da nicht. Sie trug ein glitzerndes Twinset und eine doppelreihige Perlenkette. Ihrer Frisur nach zu urteilen, hatte sie eine große Vorliebe für die Regierungszeit von Margaret Thatcher, zumindest für die Jahre, ehe die ehemalige Premierministerin sich von einem Frisör hatte beraten lassen.
Doherty saß auf einem Barhocker. Er forderte Mrs. Finchley auf, sich auf den Hocker daneben zu setzen.
»Mir wäre ein Stuhl lieber. Barhocker sind einfach nicht damenhaft«, antwortete sie und schaute den Hocker an, als wäre er die Eigernordwand.
Doherty einigte sich mit ihr auf einen Klubsessel mit Zierknöpfen und knubbeligen Füßen.
Honey stand am Ende des Bartresens, das eine Auge auf die Tür gerichtet, falls jemand sie störte, das andere auf Mrs. Finchley.
Doherty bediente sich lässig aus einem Schälchen mit gesalzenen Erdnüssen. Er hatte sein Jackett abgelegt. Zur Feier des Tages hatte er seine Moderegeln über Bord geworfen und trug ausnahmsweise Hemd und Schlips. Er sah cool aus. Und er wirkte sehr ruhig.
Honey strich sich ihr rotes Kleid über den Hüften glatt. Auch sie hatte sich Mühe gegeben. Das Kleid sah toll aus; volle Punktzahl für das neue Mieder, das alles von knappoberhalb der Taille bis auf den halben Oberschenkel bestens im Griff hatte. Dazu trug sie hochhackige schwarze Schuhe.
Doherty begann mit seinen Fragen. »Mrs. Finchley, eine zuverlässige Zeugin hat uns berichtet, dass Sie am Abend des Mordes an Clarence Scrimshaw vor der Feier das Hotel verlassen haben. Sie machten dabei einen recht aufgebrachten Eindruck. Können Sie mir sagen, woran das lag?«
Mrs. Finchley zuckte ihre ausladenden Schultern. »Das ist ganz einfach. Ich hatte vergessen, mir ein schönes Duschgel mitzubringen. In den Hotels stellen sie einem immer nur so winzige Fläschchen hin.« Sie wirkte nervös und wich seinem Blick aus.
Doherty war inzwischen von seinem Barhocker gerutscht und ging auf und ab.
Honey ahnte, was er vorhatte. Er wusste etwas, von dem Mrs. Finchley nichts wusste, und er würde es ihr gleich mitteilen.
»Sind Sie am Tag des Mordes etwa um halb fünf in Mr. Scrimshaws Hotelzimmer gegangen?«
»Nein, ganz gewiss nicht. Ich bin eine anständige Frau. Und ich glaube, dass Mr. Scrimshaw zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht angekommen war.«
Doherty warf ihr einen anklagenden Blick zu. »Eines der Zimmermädchen hat berichtet, dass es gesehen hat, wie die Tür zu seinem Zimmer zuging, fünf Minuten nachdem Sie das Hotel verlassen hatten. Möchten Sie Ihre Aussage noch korrigieren?«
Mrs. Finchley fiel die Kinnlade herunter, und die Augen schienen ihr fast aus dem Kopf zu fallen. »Nein, er war nicht da.«
»Warum sagen Sie das, Mrs. Finchley? Etwa, weil er Sie da nicht haben wollte? Weil eine andere da drin bei ihm war? Ist das der Grund, Mrs. Finchley?«
Einen kurzen Augenblick schien Mrs. Finchleys rundliches Gesicht zu erstarren, dann entgleiste es völlig. Sie begann zu plärren, laut wie ein wiehernder Esel.
»Krokodilstränen!«, rutschte Honey heraus. Doherty sah sie ratlos an.
»Ihre Augen sind trocken. Das ist nur ein Geräusch.«
Die meisten Männer geraten völlig aus dem Tritt, wenn Frauen auf die Tränendrüsen drücken. Doherty bildete da keine Ausnahme.
Er schaute von Honey zu Mrs. Finchley und wieder zurück.
Er flehte sie wortlos an: Mach was!
Honey brüllte Mrs. Finchley an. »Stellen Sie das Geheule ab, Lady. Ihre Augen sind völlig trocken.«
Kurz schien Mrs. Finchley die Luft wegzubleiben.
»Na los! Sagen Sie uns, was Sie wissen. Wir sind ganz Ohr. Hat der alte Geizkragen Scrimshaw es mit einer anderen getrieben? Hatte er eine junge Schlampe bei sich auf dem Zimmer oder nicht? Los, machen Sie schon, Mrs. Finchley. Raus mit der Sprache!«
Mrs. Finchleys Gesicht verwandelte sich von schlaff in
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