Mord zur Bescherung
war wirklich Pech. Aber das Leben geht weiter, und er hatte ja freundlicherweise seine Rechnung bezahlt, eh er »den Drang des Ird’schen abgeschüttelt« hatte. 9
Ihr Finger glitt über den Namen des Unternehmens und die Gesamtsumme zu den Zahlungsinformationen. Die Angaben zu seiner Kreditkarte waren korrekt gewesen. Es hatte keine Probleme gegeben. Die Bank hatte die Zahlung nicht gestoppt, etwa weil der alte Herr sich des Drogenhandels oder der Geldwäsche im großen Stil schuldig gemacht hatte. Er war ein feiner, aufrechter englischer Gentleman gewesen. Das Geld war pünktlich von seinem Konto auf das des Green River Hotel überwiesen worden.
»Der gute alte Clarence Scrimshaw«, murmelte Honey vor sich hin. »Er mag ja ein Geizkragen gewesen sein, aber er hat pünktlich bezahlt.«
»Was hast du gesagt, meine Liebe?«
Sie schaute auf und erblickte Mary Jane, die vor ihr stehen geblieben war.
Honey ließ sich entspannt an die Lehne ihres Stuhls zurücksinken, die Hände über dem Kopf verschränkt. Die rechte Schublade des Empfangstisches stand offen. Da lockte eine weitere Schachtel mit Rumtrüffeln.
»Der Mann, der ermordet worden ist, soll ein Geizkragen gewesen sein und dennoch hat er seine Rechnung im Voraus bezahlt. So geizig kann er doch nicht gewesen sein, sonst hätte er das nicht gemacht, oder?«
»Na ja, nur weil er aufs Geld geschaut hat, heißt das noch nicht, dass er kein ehrenwerter Mensch war«, meinte Mary Jane.
»Und ausgerechnet zu Weihnachten! Was werden seine Anverwandten sagen – wenn er überhaupt welche hatte. Bisher hat man keine gefunden, aber vielleicht gibt es doch welche. Und wenn, dann denken sie in Zukunft zweifellos jedes Jahr um diese Zeit an ihn und drücken sich ein Tränchen ab. Falls sein Tod sie zu Tränen gerührt haben sollte. Falls sie ihn aber für einen alten Geizkragen gehalten haben, ist ihnen das möglicherweise alles egal. Dann erheben sie wohl nur das Glas auf ihn und danken ihm, dass er ihnen sein Geld hinterlassen hat.«
»So ist es nun mal auf der Welt«, meinte Mary Jane weise und machte sich auf den Weg in den Aufenthaltsraum.
Honey schluckte das letzte bisschen Trüffel hinunter. Sie leckte sich ein paar Krümel aus dem Mundwinkel. Wer zieht Nutzen aus seinem Tod? Das war eindeutig die Eine-Million-Dollar-Frage, beschloss sie.
Zwei Rumtrüffel hatte sie schon verdrückt. Sie überlegte, ob sie noch einen dritten essen sollte, widerstand aber der Versuchung.
Sie redete sich ein, dass sie, wenn sie sich nur auf den Mordfall konzentrierte, kein Bedürfnis verspüren würde, Schokolade zu essen – oder irgendwas anderes.
Sie legte die letzte Praline zur Seite und schwor sich, das Mittagessen ausfallen zu lassen.
Gegen Mittag protestierte ihr Magen mit lautem Knurren, aber der Kopf gewann die Schlacht. Ganz egal, was der Magen wollte.
Der Mord an Clarence Scrimshaw war eine sehr ernste Angelegenheit. Honey widmete ihre ganze Aufmerksamkeit wieder ihren knappen Aufzeichnungen. Die Kreditkarte war auf den Namen Clarence Scrimshaw ausgestellt und bezog sich auf sein Bankkonto. Alle Angaben waren überprüft worden und in Ordnung. Das war zu erwarten gewesen. Clarence Scrimshaw hatte reichlich Geld. Er gab es höchst vorsichtig aus, wie seine Angestellten ihr erläutert hatten. Die große Frage, die sich hier stellte, war: Warum hatte er plötzlich beschlossen, es zum Fenster rauszuwerfen?
Sie notierte ein paar denkbare Gründe. Erstens wusste er vielleicht, dass er an einer tödlichen Krankheit litt. Zweitens hatte ihn eventuell der Erzengel Gabriel besucht und ermahnt, nicht so ein knauseriger alter Mistkerl zu sein. Drittens … Sie hatte keine Gelegenheit, die dritte Möglichkeit aufzuschreiben.
Ein köstlicher Duft, der einen Haufen Geld pro Milliliter kostete, ließ sie von ihrem Block aufblicken. Ihre Mutter war in winterliches Weiß gehüllt – oder nannte man das Ecru? Jedenfalls sah sie wunderbar aus – wie die köstlichste Schlagsahne aus Jersey.
Das Kleid war im Aran-Muster gestrickt, sicherlich von einer uralten verwitweten Inselbewohnerin mit knotigen Fingern und schlechten Augen.
»Hannah! Wisch dir den Mund ab!«
Schokolade. »Nur ein Rumtrüffel«, sagte Honey, die sich für die Einzahl entschieden hatte und versuchte, nicht zu schuldbewusst auszusehen.
Ihre Mutter warf ihr einen anklagenden Blick zu. »Mehr als einer, so wie ich dich kenne. Aber, na ja, unter den gegebenen Umständen …«
»Also«, sprach sie weiter, ehe
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