Mord
Seine Zelle, vermerkte eine Sozialarbeiterin, wurde immer karger, ganz eigenartig; sonst ersticken Langstrafer in dem Zeug, das sich im Laufe der Jahre in so einer kleinen Zelle ansammelt. Bei Franz Bardelow sah es leer und nüchtern aus, als wäre es das Gästezimmer einer kirchlichen Akademie, bloß mit Fernseher. Sie sorgte sich, dass er wegkippte in die Einsamkeit der hoffnungslosen Langstrafer, die schon lange nicht mehr an eine Zukunft glauben. Sie kümmerte sich darum, dass ein Lockerungsgutachten erstellt wurde; da hab ich ihn 1999 das erste Mal gesehen und mir seine Geschichte angehört. Und er bekam Lockerungen.
Im Juli 2000 gab es schließlich die erste Ausführung. Zum ersten Mal nach 19 Jahren verließ Franz den umfriedeten Bereich einer hochgesicherten Strafanstalt. In Begleitung zweier Beamter fuhr er mit der Straßenbahn in die Stadt und ging dort in Geschäfte, war auch beim Gefangenen-Hilfsverein und am Hauptbahnhof. Durch die ungewohnt ausgreifende Bewegung im Raum kam er ins Reden und erzählte den beiden Beamten vier Stunden lang ununterbrochen über sein früheres Leben und seine Erlebnisse im Vollzug, bis in die Gegenwart, wo lauter Ausländer in den Knast gekommen waren, was es früher nun wirklich nicht gab. Als sie einigen Glatzen begegneten, die Daumen hinter den breiten Hosenträgern, schimpfte er auf die jungen Schläger, die heute viel zu milde bestraft würden. Für die Stadt hatte er ansonsten kaum einen Blick übrig, nahm sie nur beiläufig zur Kenntnis.
Bei der zweiten Ausführung wurde Franz vor der Haftanstalt von seinen Brüdern Gerhard und Jan Peter in Empfang genommen. Die einstigen Mittäter, die so viel älter geworden waren, standen etwas verlegen auf dem Mittelstreifen zwischen den beiden Asphaltpisten, die in die Anstalt hinein- und wieder herausführen. Etwas linkisch umarmte er beide Brüder, die dann der Sozialarbeiterin und dem Beamten die Hand schüttelten, die Franz sicherheitshalber begleiteten. In der Straßenbahn herrschte erst mal Schweigen, es war nicht ganz einfach loszuplaudern, offenbar hatten Franz und die Brüder mit Gefühlen und Erinnerungen zu kämpfen. Alle waren froh, dass man erst mal was zu tun hatte: In der Stadt wurde Kleidung gekauft, die Brüder berieten Franz. Dann ging es zum Essen; Franz wollte zunächst ein alkoholfreies Bier bestellen, nahm dann aber auf Anraten der Sozialarbeiterin eine Cola. Er könne gut und gerne auf das Bier verzichten, sagte er, und die Brüder äußerten höfliche Kommentare. Schließlich fuhren sie zurück zur JVA , verabschiedeten sich, und Gerd und Jan Peter machten sich auf die 300 Kilometer weite Rückreise nach Vorpommern, auf der Autobahn an Berlin vorbei bis Prenzlau, und dann über die Landstraßen durch die pottebene Fläche bis ans Achterwasser.
Ende August gab es eine weitere Ausführung, wieder mit den Brüdern, diesmal fuhren sie mit dem Dampfer Havelfee zwei Stunden lang auf der Havel; vielleicht war dies Popeyes erste Schiffsreise. Der Betreuer vermerkte, dass der Haftraum von Bardelow nunmehr gemütlich gestaltet werde, öfters stehe Gebäck auf dem Tisch. Schließlich lag auch ein Gerichtsbeschluss auf dem Tisch, nach 20 Jahren.
Dann war es so weit. Franz stand vor dem Tor der Justizvollzugsanstalt Brandenburg an der Havel und war frei. Der letzte Weg hatte ihn an dem Gebäudeteil vorbeigeführt, in dem das Fallbeil steht, mit dem früher Todesurteile vollstreckt wurden. Franz war daran vorübergelaufen, hatte Papiere unterschrieben, und dann war es vorbei. Seine Habe hatte er bereits den Brüdern mitgegeben, den Rest hatte er in einer großen Sporttasche. Die Sonne schien auf die roten Ziegel der Anstalt und der Beamtenhäuser, und er war frei. Was man halt so frei nennt. Aber es fühlte sich jedenfalls ganz anders an, als wenn man draußen war und zurückmusste.
Den Lauf der Kanone auf die Anstalt gerichtet, stand ihm gegenüber olivgrün und rostend ein russischer Panzer, dort aufgebockt zum Gedenken an die Befreiung des Zuchthauses Brandenburg. Franz ging nach links, zur Endstation der Elektrischen, die wartete auch schon. Es war aber noch Zeit bis zur Abfahrt. Dann setzte sie sich in Bewegung, er war noch der einzige Fahrgast. An der nächsten Haltestelle rechts lag die große psychiatrische Anstalt, die frühere Bezirksnervenklinik. Da gab es in einer neuen Abteilung hinter Kiefern und einer fünf Meter hohen Mauer Eingesperrte, die wegen ihrer Taten in der Psychiatrie gelandet waren.
Weitere Kostenlose Bücher