Mord
einschätzen; diese Fähigkeiten nutzte er, um auf Distanz zu bleiben, eine Nische zu pflegen, abseits der Hierarchie und der Rangkämpfe.
Einmal jährlich wurde ein Erziehungsgespräch mit ihm geführt, von einem Oberleutnant im Strafvollzugsdienst. Franz sagte jedes Mal, dass er die Tat bereue. Das stimmte. Er wurde auch gefragt, wie er zur sozialistischen Ordnung des Arbeiter- und Bauernstaates stehe. «Na ja», sagte Franz, «darum geht es ja nicht, deswegen sitz ich ja nun nicht.»
Dann kam die Wende. Seine Brüder kamen nach der Wende raus. Gerd schenkten sie einige Jahre, er wurde 1991 entlassen und hat die Bewährungszeit gut überstanden, hat nie wieder etwas angestellt. Er nahm sich wieder eine Wohnung in Lassan und fand Arbeit. Bei Jan Peter wurde das Urteil herabgesetzt auf zehn Jahre, weil er bei der Tat erst 16 war und das die Höchststrafe im bundesdeutschen Jugendstrafrecht war. Tatsächlich verbüßte er zehn Jahre und vier Monate, weil die Wende ein wenig spät kam. Seither lebte er auf Usedom, hat geheiratet und ist nie wieder straffällig geworden. Willy Meier ist wohl auch entlassen worden; zurück blieb Franz.
Franz war eigentlich immer ein problemloser Gefangener; er wusste, dass er keinen Streit haben durfte und auch keinen wollte. Also hatte er keinen Streit, jetzt nicht mehr, er war ein altgedienter Gefangener. Dabei nun keineswegs alt. Er blieb klein und drahtig, nur der Kopf wurde kahl; Popeye, der Sailorman. Drei Jahre nach der Wende wurde er zum letzten Mal bestraft, wegen Ansetzens von Alkohol. Aber Situationen, in denen er an die Decke hätte gehen können, vermied er.
Nach der Wende nahm auch der Kontakt zur Familie wieder zu, die die erlaubten Pakete zu den Festtagen schickte. Vor Weihnachten wurde er an die Pforte bestellt, ein Paket für ihn war da. Der Beamte hatte es bereits geöffnet, stand hinter dem Tisch mit dem Paket und wies mit vorwurfsvollem Blick auf eine rote Kerze. «Die ist nicht erlaubt!» Franz merkte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, er stand da, vor dem Tisch, durfte sein Paket nicht ergreifen und einfach mitnehmen, sagte: «Kerzen sind erlaubt. Überall auf der Abteilung sind jetzt Kerzen.» – «Kerzen sind erlaubt», sagte der Beamte, «aber nicht im Paket. Da kann ja alles Mögliche drin sein. Im Wachs.» – «Da ist nichts drin, das ist von meiner Schwägerin, das Paket», sagte Fritz. Der Beamte sagte: «Nicht erlaubt», warf die Kerze in einen großen Mülleimer und schob Franz das Paket rüber. Franz spürte die drängende Neigung, über den Tisch zu springen. Aber er nahm das Paket und verließ mit hochrotem Kopf die Pforte. In seiner Zelle schrieb er abends einen Brief, in dem er sich bei der Schwägerin ordentlich bedankte und darum bat, man solle keine Pakete mehr schicken. Das müsse nicht sein, er komme schon klar.
Dann kamen schlimme Jahre, obwohl doch alles gut zu werden schien. Man machte ihm Hoffnung, dass er nach 15 Jahren rauskäme, und er traute sich zu hoffen. Seine Familie glaubte das auch. Bei der Anhörung durch das Gericht Anfang 1995 hieß es, dass er entlassen werde, wenn er eine Wohnung nachweisen könne und möglichst auch Arbeit. Die Anstalt befürwortete eine Entlassung. Die Familie kam zu Besuch, sie sagten, sie hätten mit dem Anwalt gesprochen, es sei alles geklärt: Im Mai 1996 käme er raus, vielleicht würde es Juni werden. Das war so in der Bundesrepublik, zu der man nun gehörte, nach 15 Jahren kam man raus, hatte der Anwalt gesagt. Franz, der sich über die Jahre schon mit «lebenslänglich» abgefunden hatte, resigniert hatte, gesoffen hatte, lebte auf: wieder hinaus, in Freiheit, ein neues Leben. Dann kam die Gerichtsentscheidung: 18 Jahre Mindestverbüßungszeit. Weil es zwei Tote waren. Und Entlassung danach auch nur dann, wenn ein Gutachter versicherte, dass von ihm keine Gefahr mehr ausging.
Franz wusste nicht wohin mit seiner Enttäuschung. Der Sozialarbeiterin sagte er, dass er sich von seinen Geschwistern nicht verklapsen lasse, die hätten ihm falsche Hoffnungen gemacht. Die bräuchten ihn nicht mehr zu besuchen. Auch die Mutter nicht. Das rege ihn alles zu sehr auf. Vielleicht auch, weil er sich schämte, es nicht geschafft zu haben. Alle anderen waren schon raus, nur er schaffte es nicht.
Franz zog sich daraufhin immer mehr zurück, lehnte jede Arbeit ab, wollte lange keinen Entlassungsantrag mehr stellen. Ohne den kann eine Entlassung aber nicht geprüft werden, der Gefangene muss zustimmen.
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