Mord
ihre Familie lebte, um sich dort mit ihm niederzulassen. Das war nun gerade mal ein halbes Jahr her, und es war dann doch alles ganz anders gekommen.
Im Bus hatte Alan sich auf den Sitz jenseits des Ganges gesetzt, um rechts aus dem Fenster schauen zu können. Er dachte an die Kämpfe, die er durchgemacht hatte, um dies zu erreichen: ein neuer Anfang, noch mal ganz von vorn, wie frisch verliebt, fern von zu Hause und all den schlechten Erinnerungen. Die ihn aber nun doch begleiteten, während der Bus vor sich hin rollte durch eine April-Landschaft, die unter einem grau verhangenen Himmel grün zu werden begann. Als er ausgezogen war, im November vor eineinhalb Jahren, hatte er einen «Zusammenbruch» gehabt und war sogar zu einem Psychiater gegangen, der ihm eine Depression bescheinigt und Beruhigungsmittel verordnet hatte. Die hatte er drei Tage genommen, dann weggelassen, weil sie ihn so müde machten. Seine Mutter hatte ihn gestützt und getröstet; sie wusste Bescheid im Leben. Als er damals angekommen war mit einer Frau mit zwei Kindern, war sie nicht sehr erbaut gewesen. Sie hatte ihn gewarnt, ihm aber die Beziehung gestattet und konnte schließlich auch der Ehe nicht widersprechen, als Melinda sie zur Großmutter machte. Aber auch dass Melinda bald nach der Geburt wieder arbeiten ging, war ihr nicht recht, obwohl sie sich gern um das Baby, die kleine Victoria, kümmerte.
Alans Mutter wohnte nicht weit entfernt in Ilford, dort war er aufgewachsen. Bis zur Rente hatte sie bei British Rail am Fahrkartenschalter gesessen, geduldig mit den Kunden, die nicht wussten, wohin und wann wieder zurück. Sie hatte früher mit Behinderten gearbeitet und pflegte mit gleicher Hingabe ihren Garten. Alans Vater arbeitete schon viele Jahre, wie dann auch sein Sohn, bei Western Kingdom Insurance, als Bote im Hauptbüro, und hatte noch drei Jahre bis zur Rente. Wie sein Sohn war er Nichtraucher und Nichttrinker, aber lustig und ein Kandidat für den privaten Friedensnobelpreis: Er hasste Konflikte und war bis zur Selbstverleugnung tolerant. Wenn es dennoch zum Streit kam, stand er einfach auf und ging hinaus.
Alan war gerne zur Schule gegangen, Erdkunde, Geschichte, Englisch hatten ihm Spaß gemacht. Er wäre auch gern aufs College gegangen oder zur Uni, um Geschichtslehrer zu werden, aber ein Freund hatte eine bessere Idee: fremde Länder kennenzulernen, statt jahrelang zu studieren, viel herumfahren, Norwegen, Deutschland – die Navy. Mit 16 war Alan also zur Royal Navy gegangen. Der Drill und die militärische Ordnung machten ihm nichts aus, sportlich war er ohnehin, kein Muskeltyp, aber drahtig, ein quirliger Mittelfeldspieler im Fußball, das war alles okay. Trotzdem blieb er weniger als ein Jahr, weil er Heimweh hatte. Täglich rief er seine Mutter an. Die Grundausbildung in England ging ja noch, aber als man ihm in Aussicht stellte, in einem U-Boot sechs bis sieben Monate in der Antarktis zu bleiben, sah er zu, dass der Vertrag wieder gelöst wurde.
Danach war es Alan nicht gelungen, wieder in die schulische Laufbahn einzusteigen und ein College zu besuchen. Er genierte sich auch, seinen Ausstieg bei der Navy immer wieder zu begründen. Schließlich war er froh, mit 18 Jahren bei W. H. Smith zu landen, einer renommierten Firma, die ihm eine solide Berufsperspektive bot. Alan arbeitete dort in verschiedenen Berufsfeldern, lernte mit Menschen und Geld umzugehen und arbeitete sich hoch zum Lagerverwalter der Filiale Liverpool Street Station. Er hatte Verantwortung, musste Aufträge abwickeln, neue Bücher bestellen, das Personal einweisen, war der zweite Mann hinter der Chefin. Nach zehn Jahren bei W. H. Smith wollte er eine eigene Filiale übernehmen, aber die Geschäftsführung teilte ihm mit, er sei schon am richtigen Platz. Melinda warf ihm vor, er habe nicht genug Ehrgeiz, man müsse etwas machen aus seinem Leben. Da sagte der Vater, in seiner Firma sei eine Stelle frei, und so wechselte Alan zu Western Kingdom, wo die Arbeit nicht gar so anspruchsvoll war, aber deutlich besser bezahlt wurde. Und er war jeden Nachmittag um fünf zu Hause.
Melinda sah eine Autobahnraststätte vorbeiziehen, der Bus überholte leicht schaukelnd einen LKW . Ein gleichförmiges Rauschen erfüllte die Luft. Sie hätte gern eine Zigarette geraucht und nach dem Flug etwas getrunken, aber jetzt musste sie durchhalten bis Heidelberg. Sie erinnerte sich, wie alles begann, vor gut sieben Jahren: Sie war 21 und hatte schon zwei
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