Mord
Franz aber fuhr in der alten Straßenbahn weiter, fuhr lange, durch die ganze Stadt, bis zum Hauptbahnhof und stieg in den Zug, zurück nach Vorpommern.
Als er fast angekommen war, die Kirchtürme von Pasewalk waren schon vorbeigezogen, dachte er zurück. So ein Sonnabend im Mai, der das ganze Leben entscheidet, und für zwei war das Leben schon zu Ende, für immer. Er überlegte, wo Körner und Stolp wohl beerdigt waren, ob sie auf dem Friedhof in Lassan lagen. Ob er sie wohl mal besuchen gehen sollte. Oder ob das nun Unsinn wäre, weil das ja nun auch nichts mehr half, nach all den Jahren.
Dann stieg er aus dem Bus, der ihn nach Lassan gebracht hatte. An einer Verkaufsstelle schräg gegenüber standen drei Jungs, Glatze, Stiefel, schwarze Jacken, Bierflasche in der Hand, die lachten und schauten kurz zu ihm rüber. Sie beachteten ihn nicht weiter, obwohl er hier ja nun fremd war. Franz fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf, packte die Sporttasche und ging heim zur Mutter.
Kissenschlacht
Es war für Alan phantastisch, aus England rauszukommen, er hatte alles bezahlt. Der Flug landete nur zehn Minuten verspätet in Frankfurt am Main. Alan und seine Frau waren mit ihrem Gepäck extra die eineinhalb Stunden mit dem Zug nach Stansted hinausgefahren, weil es von dort deutlich billiger war; sie hatten auch keineswegs alles dabei, was zu einer endgültigen Übersiedlung nach Deutschland nötig wäre, sondern erst einmal nur das übliche Reisegepäck für vier Wochen.
Als sie mit einem kleinen Hopser, wie ihm schien, etwas abrupt auf der Landebahn aufsetzten, hatte Alan ganz kurz ein mulmiges Gefühl im Bauch – war das nicht alles eine Nummer zu groß? Aber dann rollte die Maschine und rollte und rollte, als führe sie mit ihnen direkt nach Heidelberg, hielt an, rollte nochmals einige Sekunden weiter, hielt erneut und beendete mit einem kurzen Seufzer ihre Arbeit. Der beleibte Deutsche neben ihm, der auf dem Gangplatz saß, aber bis weit in seinen Mittelsitz geragt hatte, erhob sich, indem er sich am Vordersitz hochzog, und knackte über ihnen den Deckel des Gepäckfachs auf. Alans Frau, Melinda, sein ganzer Stolz, blieb gelassen sitzen, während er selbst nun auch zögerlich in die Höhe ging und etwas gekrümmt an seinem Platz stehen blieb: Alan C. Boves, 32 Jahre alt, 180 Zentimeter groß, 75 Kilogramm schwer, schmal, blond, ein Engländer, so wie die Deutschen sich einen bescheidenen, höflichen und wohlerzogenen Engländer vorstellen. Keine Kriegergestalt wie Braveheart, kein proletarisches Raubein wie Wayne Rooney, den damals noch keiner kannte, sondern ein braver Verkäufer in der Filiale Liverpool Street Station der Buchhandelskette W. H. Smith.
Nach zehn Jahren dort hatte er die letzten drei Jahre als «Postal Messenger» bei Western Kingdom Insurance gearbeitet, wo er morgens die Post aufmachte, auf die verschiedenen Abteilungen und Gebäude sortierte, dann verteilte und zugleich die neue Post abholte, die er wiederum für die Abholung zentralisierte. Er hatte keine Wechselschicht mehr und verdiente besser als bei W. H. Smith. Das Leben in London war teuer. In Deutschland würde es nicht so teuer sein, dachte er sich, und so eine Arbeit als Bürobote zum Beispiel müsste doch möglich sein, auch wenn er gerade erst anfing, die Sprache zu lernen. Von einem Verwandten, der bei der Rheinarmee gewesen war, hatte Alan gehört, dass man in Deutschland finanziell gut zurechtkommt und die Leute alle Englisch sprechen.
Es ging nicht voran im Flugzeug, fast alle Leute standen. Alan fühlte sich eingekeilt und etwas unbehaglich, umgeben von Leuten, deren Sprache wohl Deutsch sein musste. Melinda blickte ihn an, zwinkerte ihm aufmunternd zu. Sie war schon eine Wucht, nicht groß, aber ein richtiges Weib. Immer wieder einmal, so auch jetzt, staunte er, dass er dieses Spice Girl erobert hatte, dass sie sein war. Sozusagen sein, aber daran wollten sie jetzt nicht mehr denken.
Eigentlich war der Neuanfang in Deutschland seine Idee gewesen, aber sie war in die Reisebüros gegangen und hatte Prospekte besorgt. Sie hatten am Couchtisch gesessen und die Hefte angeschaut, Preise verglichen; Melinda hatte schließlich mit ihm die Reiseroute festgelegt: Drei Regionen wollten sie anschauen, die um Heidelberg, München und, auf Empfehlung des Vetters von der Rheinarmee, Bielefeld. Melinda hatte die Fahrkarten nach Stansted und die Hinflüge gebucht sowie das Hotel der ersten Etappe, in Heidelberg.
Melinda
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