Mord
Kinder und arbeitete in der Diskothek Cadillac in London als Barfrau, ein ganz sauberer Job. Sie musste sich und die Kinder allein durchbringen, von ihrer Familie war nichts zu erwarten. Melinda war das jüngste von fünf Geschwistern. Ihre Mutter war abgehauen, als sie drei Jahre alt war, sie hatte keinerlei Erinnerung an sie. Aber wenn sie niedergeschlagen war, dachte sie oft an ihre Mutter und fragte sich, warum diese ihre Familie verlassen hatte. Sie hatte wohl gesoffen wie auch der Vater, ein waschechter Ire; man hatte ihr erklärt, bei Iren sei das halt so. Dass der Vater eines seiner Kinder finanziell unterstützen könnte, war ausgeschlossen, aber er hielt zu Melinda, nannte sie nur bei ihrem zweiten Namen Rose.
Damals im Cadillac kamen jeden Donnerstag um neun Uhr abends zwei Kerle, die sahen ganz manierlich aus, jedenfalls nicht schlimmer als die meisten. Sie waren nicht besonders laut oder aufdringlich und offenbar auch nicht schwul. Der eine war Alan. Sie unterhielten sich, und per Zufall stellte sich heraus, dass sie beide nicht weit voneinander in Ilford wohnten. Melinda hatte Alan gefragt, ob er einen Führerschein habe und ein Auto und ob er sie bei Betriebsschluss mitnehmen könne; es war ein ziemliches Elend, so spät nachts noch aus der City nach Essex rauszukommen. Er hatte einen Führerschein, und er trank nicht, nur Cola. Nach einiger Zeit begann Alan dann, Melinda auch zu Hause abzuholen und zu ihrer Arbeit mitzunehmen, wenn sie später anfing. Sein Freund schätzte das nicht sehr, musste sich aber fügen.
So hatte alles angefangen. Später hatte Melinda rausgefunden, dass Alan sogar noch Jungfrau war. In der Zeit bei der Navy war ohnehin nichts gelaufen; er hatte sich wohlweislich gedrückt, wenn die Kameraden verdeutlicht hatten, wohin sie wollten. Er erzählte ihr zwar, dass er, seitdem er bei W. H. Smith arbeitete, insgesamt drei Freundinnen gehabt hatte, eine sogar länger, und mit denen sei auch sexuell was gelaufen. Aber von seiner Mutter wusste sie, dass er nie eine mit nach Hause gebracht hatte. Wenn er mit einem Mädchen ins Kino ging, hatte er vorher Bescheid gegeben, damit sie nicht unruhig wartete, und war nachts immer pünktlich heimgekommen.
Auch Alan hatte die Autobahnraststätte gesehen. Er ahnte nicht, und es musste ihn auch wirklich nicht interessieren, dass diese Raststätte wenige Jahre später der Schauplatz eines Kriminaldramas sein würde, der Verhaftung eines flüchtigen Mörders. Alle Orte, an denen wir vorbeifahren, eignen sich für eine Landkarte des Bösen, der Verbrechen. So, wie es eine Landkarte der Liebe gibt, in die problemlos auch ganz unscheinbare Orte hineinpassen wie Ilford, Essex, am zerfledderten Ostrand Londons. Es muss nicht immer Heidelberg sein. Aber in Heidelberg sollte es den Neustart der Liebe geben.
Natürlich konnte sich nicht wiederholen, was damals zu Beginn ihrer Liebe geschah. Außer wenn Alan Melinda zur Arbeit fuhr und abholte, und zwar jeden Donnerstag, gab es keinen Kontakt, keine Einladung zum Kaffeetrinken, nichts, von keinem, und das mehrere Monate. Bis Alan eines Freitags in seinem Vauxhall die Geldbörse von Melinda fand, die sie darin verloren hatte. Sie hatte ihm nie ihre exakte Adresse gesagt, sondern war stets an demselben Altenheim ein- und ausgestiegen, von wo sie auf einem schmalen Fußgängerweg verschwand. Er hatte das Portemonnaie geöffnet und darin die Fotos von zwei kleinen Kindern gefunden, anscheinend ein Junge und ein Mädchen. Als er ihr das Portemonnaie zurückgab, hatte sie sich bedankt, er hatte nichts gesagt. Zwei Wochen später erzählte sie während der Heimfahrt von der Disko, dass sie zwei Kinder hatte, Sandy und Moses. Es tue ihr leid, sie hoffe, es mache ihm nichts aus, aber deswegen könne sie ihn nicht mit hochnehmen. Außerdem sei abends eine Freundin da, die auf die Kinder aufpasse. Das sei doch völlig in Ordnung, hatte er gesagt, er habe es ja auch nicht mehr weit. Dann war er nach Hause gefahren, dafür brauchte man nur vier Minuten, und war wie immer leise in sein Zimmer gegangen, um seine Mutter nicht zu wecken; der Vater schlief eh wie ein Murmeltier. Als er im Bett lag, spürte er seine Erektion, und als er Melinda in Gedanken auszog und sich selbst befriedigte, hatte er fast ein schlechtes Gewissen – als verstieße er gegen eine Absprache. Eine Woche später meinte Melinda, er könne ja kurz mit hochkommen und die Kinder kennenlernen. Oben sagte sie zu Pauline, der Babysitterin:
Weitere Kostenlose Bücher