Mord
konnte sich von Alan nicht recht lösen. Immer wieder rief sie ihn an, mitten in der Nacht oder auch frühmorgens: «Komm rüber, bring mir ’ne Schachtel Zigaretten mit.» Und Alan kam, jedes Mal, sagte, so könne er ja auch gleich nach dem Rechten sehen. Er schaute dann in den Kühlschrank, ob Milch da war, in den Brotkasten und nach den Schulsachen der Kinder. Manchmal zog sie ihn ins Bett mit ihrem rauchigen Atem, wollte, dass er schnell eindrang, und blieb in weiter Distanz. Aber von sich aus versuchte er nie, die Situation auszunutzen, er ahnte, dass er sich dann eine Abfuhr holen würde.
Vor einem Jahr war dann ihr Vater plötzlich ins Krankenhaus gekommen, das war fürchterlich für sie gewesen. Sie konnte sich freinehmen und war 14 Tage bei ihm. Sie hatten ihm einen krebsbefallenen Lungenflügel entfernt. Die andere Lunge war aber auch befallen, und so lohnte es sich nach Auffassung ihres Vaters nicht mehr, mit dem Rauchen aufzuhören. Keuchend stand er auf der eisernen Nottreppe am Ende des Stationsflurs im Freien und rauchte; Melinda stand drinnen, vor der geschlossenen Glastür, wartete auf ihn, und ihr liefen die Tränen. Dann, Anfang Juni, war er gestorben, Old Paddy.
Die Beerdigung fand an einem Dienstagvormittag statt. Alan war natürlich dabei, saß in einer der hinteren Reihen. Die Kinder drehten sich nach ihm um. Am nächsten Vormittag wurde er am Arbeitsplatz angerufen, Melinda, weinend, ob er kommen könne, jetzt gleich, es gehe ihr schlecht. Alan regelte es, dass er gehen konnte, und fuhr raus nach Ilford. Die Haustür war offen, er ging hoch in den ersten Stock und stand vor der Wohnungstür, als er merkwürdige Geräusche hörte. Er schaute durch die Briefkastenklappe in der Tür und sah ins Wohnzimmer. Genauer gesagt sah er auf Rons nackte Beine, Hintern und Hodensack, die sich in regelmäßiger Bewegung befanden, und von Ron verdeckt seine Frau. Er ging wieder runter vor die Haustür, schellte, sagte durch die Sprechanlage: «Komm runter, ich warte unten», und wartete, zehn Minuten oder noch länger. Eine Nachbarin kam vorbei, grüßte, er grüßte. Schließlich kam Melinda, sagte gleich: «Komm, gehen wir etwas trinken.» Wohl damit Ron sich davonmachen konnte. Er sagte: «Was treibst du eigentlich mit mir? Rufst mich an, dass du jemand zum Reden brauchst, und dann so was! Was soll das?» Melinda sagte: «Mach keinen Ärger, gehen wir etwas trinken.»
Er ging mit ihr los, denn er wollte Ron sowieso nicht noch mal sehen. Jemand anders würde sicher reingehen und ihm ein paar verpassen, dachte Alan. Ich nicht, dachte er. Er überlegte, ob Melinda und Ron das extra gemacht hatten, ob sie ihn verrückt machen wollten. Im Pub sagte Melinda nicht mal, dass es ihr leidtue. Sie sagte, es sei ihre Sache, was sie mache, und dass Alan kein Recht habe, in ihr Leben einzudringen. Dann nahm sie noch einen Ginfizz, und sie redeten, und Melinda sagte, gar nicht laut, aber so, als sei es die letzte Wahrheit: «Du bist überflüssig! Solche Leute wie dich braucht man nicht auf der Welt.» Alan hatte gemerkt, wie sein Gesicht rot geworden war, er hatte geglaubt zu zittern. Er rief vom Apparat hinter der Theke in der Firma an, dass er auch nachmittags nicht zurückkommen könne. Als er an den Tisch zurückkam, fragte Melinda, ob er arbeiten müsse, er verneinte. Dann könne er ja die Kinder abholen. Das tat er dann und brachte die Kleinen zu seinen Eltern. Am nächsten Tag ging er wieder zum Psychiater, der ihn krankschrieb, für vier Wochen.
Das, so sah es Alan in der Rückschau, war der Tiefpunkt gewesen. Danach ging es langsam bergauf. Der Arzt wollte ihn auch noch einen zweiten Monat krankschreiben, aber er ging wieder zur Arbeit und blieb dort, bis sie im April nach Deutschland flogen; er hatte vier Wochen Urlaub genommen. Im Oktober hatte der Aufwärtstrend begonnen. Mit der Geburtstagsparty seiner Tochter, sie wurde fünf. Am Abend nach der Party hatte Melinda ihn rasch geküsst und gesagt, dass es ein richtig schöner Kindergeburtstag gewesen sei. Und dass er ihr noch etwas bedeute. Er wisse doch, was sich liebt, das schlägt sich. Es war Samstagabend, schon spät, sie bat ihn zu bleiben, aber er wollte nicht, wollte seine Prinzipien nicht verletzen. Irgendwie war er dann doch geblieben und hatte auch mit ihr geschlafen.
Seine Mutter zog am Sonntagmittag bedenklich die Augenbrauen hoch, als sie ihn sah. Melinda aber hatte gemeint, beim nächsten Mal solle er doch ein paar T-Shirts
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