Mord
alte misstrauische und überbordende Feindseligkeit gegenüber den Bediensteten schien einzuschlafen. Er kam zurück nach Tegel, arbeitete ordentlich und verhielt sich kooperativ. Beim Antigewalttraining attestierte man ihm nach zwei Jahren, dass er in der Gruppe über seine Straftaten und über ein zukünftig gewaltfreies Leben intensiv geredet habe. Er habe sich mit den Ursachen seiner Verbrechen auseinandergesetzt und Verantwortung übernommen für die Folgen für seine Opfer und für ihn selbst. «Herr Siegfried Lehmann konnte der Gruppe gegenüber glaubhaft darstellen, dass Gewalt für ihn fortan kein angemessenes Mittel der Lösung von Problemen mehr sein kann.» Na also, da stand es schwarz auf weiß, konnte er bei Gericht vorlegen.
Und da war ja auch die Geschichte aus der U-Bahn gewesen, in der Siegfried verhindert hatte, dass die Beamten sich mit einem Ex-Gefangenen prügelten. Die Beamten hatten, zurückgekehrt nach Tegel, in den Bericht geschrieben, dass es bei der Ausführung keine besonderen Vorkommnisse gab. Siegfried aber hatte den Mund nicht halten können oder wollen und seine Heldentat als Friedensstifter einigen Mitgefangenen erzählt. Die fragten bei den Beamten nach und amüsierten sich. Die beiden Beamten waren natürlich nicht amüsiert, dass Siegfried damit hausieren ging, aber der Abteilungsleiter lobte Siegfried. Trotzdem, in die Akten kam nichts.
Doch es passte ins positive Bild, das alle sich jetzt machen wollten. Vom Saulus zum Paulus. Siegfried, das Großstadtkind, erklärte sich bereit, in eine «betreute Wohneinrichtung» außerhalb Berlins zu ziehen. Außerhalb Berlins, das hieß: Brandenburg, fing gleich am Stadtrand an und hörte dann lange nicht mehr auf. Felder, Sandwege, Betonwege, Kiefern, Rehlein und Wildschweine. Siegfried meinte tapfer, er wäre jetzt über 40 und würde das durchziehen; in Brandenburg war er auch noch nie. Sicher hatte er nicht zu Unrecht gesessen, das Opfer, Hänschen, hatte dreieinhalb Monate im Koma gelegen, er war damals ein Rabauke. Ihm war alles gleichgültig gewesen. Aber dann hatte er sich gesagt: Jetzt muss Schluss sein.
Und es gab noch einen Vorfall, bei dem sich Siegfried sehr korrekt verhalten hatte. Auf der Sicherungsverwahrten-Station hatte es einen Türken gegeben, Mehmet, der öfters auf die Psychiatrie-Abteilung musste. Eines Tages ging Mehmet völlig ohne Grund mit einem Standaschenbecher auf Siegfried los. Er konnte ihn gerade noch abwehren, nahm ihn in den Schwitzkasten und brachte ihn auf seine Zelle. Der Teilanstaltsleiter meinte zu Siegfried, er habe wegen des Vorfalls bei ihm einen Stein im Brett, weil er nicht wie früher überreagiert, sondern den anderen nur abgewehrt hatte.
Aber keine Einrichtung in Brandenburg oder Berlin bot ihm eine Unterkunft an, und es vergingen noch vier Jahre, in denen immer neue Stellungnahmen über Siegfried Lehmann eingeholt wurden. Er blieb hartnäckig brav und ließ sich nichts zuschulden kommen. Anfang 2005 wurde er vom Gericht zur Bewährung aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Er werde jetzt ohne Straftaten leben, habe ich als Gutachter mutig gemeint, unter einer wichtigen Voraussetzung: dass er nicht erneut verwahrlost und nicht wieder zu trinken anfängt. Das Gericht verhängte für die Zeit der Führungsaufsicht – fünf Jahre, in denen er sich den Weisungen des Bewährungshelfers unterwerfen musste – ein striktes Alkoholverbot. Illegale Drogen waren sowieso verboten.
Ein anstrengendes Jahr in Freiheit
Ein gutes Jahr später berichtete Siegfried mir, wie es gelaufen war – nicht ganz so, wie es sein sollte. Die Entlassung war etwas holterdiepolter vonstattengegangen, bis zum letzten Tag hatte er keinen Alleinausgang gehabt, weil die Anstalt sich nicht traute. Als er dann im Januar entlassen wurde, war die Wohnung noch nicht richtig eingerichtet. Bekommen hatte er sie auch nur über Schwarzgeld und einen Bekannten, sonst bekam man ja mit seiner Vorgeschichte keine Wohnung. Dann lernte Siegfried durch Bekannte eine Kurdin kennen, Dilara, in die er sich verliebte, so richtig. Allerdings wusste er nicht, dass sie schon seit sieben Monaten illegal in Deutschland war. Sie war aus der Türkei, aus Urfa, ganz nett, in seinem Alter, und er erfuhr zunächst nur, dass auch ihre erwachsene Tochter in Berlin lebte. Mit ihrer kleinen Tochter zog Dilara bei ihm ein. Finanziell war das natürlich eine Belastung, er hatte ja nur 615 Euro im Monat. Aber seine Bekannten fanden es gut, meinten,
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