Morddeutung: Roman (German Edition)
Pöbel wollen, wenn die Regeln der Zivilisation zu Fall gebracht sind? Glauben Sie, diese Menschen werden nur Sex wollen? O nein. Sie werden neue Regeln verlangen. Sie werden sich irgendeinem neuen Wahnsinnigen unterwerfen. Sie werden Blut wollen – Ihr Blut wahrscheinlich, Dr. Freud, wenn man aus der Geschichte seine Lehren ziehen will. Sie werden ihre Überlegenheit beweisen wollen, so wie es typisch ist für die niedrigsten Menschen. Und sie werden töten, um sie zu beweisen. Ich stelle mir ein ungeheures Blutvergießen vor, ein Blutvergießen in einer noch nie da gewesenen Größenordnung. Sie möchten die zivilisierte Moral abschaffen – das Einzige, was die Brutalität des Menschen in Schach hält. Was haben Sie als Gegenleistung zu bieten, Dr. Freud? Was soll an die Stelle der Moral treten?«
»Nur die Wahrheit«, erwiderte Freud.
»Die Wahrheit eines Ödipus?«
»Unter anderem.«
»Aber genutzt hat ihm diese Wahrheit auch nicht viel.«
Neben Nora Actons Bett flackerte eine Kerze. Das Laternenlicht vom Gramercy Park fiel bleich auf ihre Vorhänge. Die Beleuchtung reichte nicht einmal, um einen Umriss des Mannes zu erkennen, dessen Gegenwart in ihrem Zimmer Nora mehr spürte als sah. Sie wollte schreien, doch ihr Körper reagierte nicht auf den Befehl ihres Bewusstseins. Dieses Bewusstsein hatte sich irgendwie losgerissen und schweifte auf eigene Faust umher. Sie schien sich schwebend aus dem Bett zu erheben, nach oben zur Decke, und ihren kleinen, mit einem Nachthemd bekleideten Körper unten zurückzulassen.
Jetzt sah sie ihren Angreifer ganz deutlich, aber von oben. Den Blick nach unten auf sich selbst gerichtet, sah sie, wie er das Taschentuch von ihrem Gesicht nahm. Sie sah, wie er ihr roten Lippenstift auf den schlaffen, nachgiebigen Mund tupfte. Warum bemalte er ihr die Lippen mit Farbe? Aber es gefiel ihr – sie hatte sich immer gefragt, wie sie wohl damit aussehen würde. Was würde der Mann als Nächstes tun? Von oben beobachtete Nora, wie er an der Flamme ihrer Nachttischkerze eine Zigarette anzündete, ein Knie auf ihre auf dem Rücken liegende Gestalt presste und die glühende Zigarette direkt auf ihrer Haut ausdrückte, dort unten, nur wenige Zentimeter entfernt von ihrer empfindlichsten Körperstelle.
Ihr Körper zuckte gegen das Knie, das ihn festhielt. Von oben war sie stumme Zeugin. Sie sah sich zucken, als ob sie Schmerzen hätte. Aber sie hatte doch keine Schmerzen. Sie betrachtete alles, ohne das Geringste zu spüren. Und wenn sie, während sie sich beobachtete, keine Schmerzen hatte, dann existierten diese Schmerzen auch nicht – schließlich war niemand da, der sie hätte empfinden können.
TEIL 4
KAPITEL SECHZEHN
Ich muss mich benehmen, als würde ich sie nicht lieben, als würde ich rein gar nichts für sie empfinden. Das sagte ich mir beim Rasieren am Donnerstagmorgen. Um halb elf sollte ich im Haus der Actons erscheinen und Noras Psychoanalyse fortsetzen. Ich wusste, dass ich sie haben konnte. Aber das wäre Ausbeutung gewesen, Manipulation, Ausnutzung ihrer Anfälligkeit in der therapeutischen Situation – eine Verletzung des hippokratischen Eides, dem ich mich mit meiner Berufswahl verpflichtet hatte.
Es ist mir unmöglich, die Gedanken zu beschreiben, die mir durch den Kopf schießen, wenn ich mir diese Frau vorstelle, und im Wachzustand steht sie mir praktisch dauernd vor Augen. Nun, möglich wäre es vielleicht, aber nicht ratsam. Doch was ich wirklich nicht beschreiben kann, ist die Hohlheit in meiner Lunge, wenn ich ohne ihre Gegenwart auskommen muss. Als müsste ich vor Verlangen nach ihr sterben.
Ich bin gelähmt wie Hamlet. Mit einem Unterschied allerdings. Ich habe das Gefühl, sterben zu müssen, wenn ich nicht handle, während Hamlet das Gefühl hat, sterben zu müssen, wenn er handelt. Für Hamlet ist »Sein« das Gleiche wie nicht handeln. Handeln bedeutet sterben, das heißt »Nichtsein«.
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil’ und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Im Widerstand zu enden. Sterben …
Mit anderen Worten: »Sein« heißt schlicht das eigene Schicksal zu »erdulden«, nichts zu tun und somit zu leben, während »Nichtsein« heißt zu handeln, »sich zu bewaffnen« und zu »sterben«. Hamlet sagt, dass er weiß, weshalb er nicht gehandelt hat: Die Furcht vor dem Tod, so endet sein Monolog, oder vor »etwas nach dem Tod«
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