Morddeutung: Roman (German Edition)
stellen.«
»Meinetwegen«, antwortete sie.
»Kennen Sie einen William Leon?«
»Pardon?«
»William Leon«, wiederholte Littlemore. »Ein Chinese. Auch unter dem Namen Leon Ling bekannt.«
»Ich kenne keine Chinesen, Detective.«
»Vielleicht hilft das hier Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge.« Der Detective zog eine Fotografie aus der Tasche und reichte sie dem Mädchen. Es war das Bild aus Leons Apartment, das den Chinesen mit zwei jungen Frauen zeigte. Eine von ihnen war Nora Acton.
»Woher haben Sie das?«, wollte das Mädchen wissen.
»Wenn Sie mir einfach sagen würden, wer das ist, Miss Acton. Es ist wirklich wichtig. Der Mann ist möglicherweise gefährlich.«
»Ich weiß nicht. Ich meine, ich habe es nie erfahren. Er wollte sich unbedingt mit Clara und mir aufnehmen lassen.«
»Clara?«
»Clara Banwell«, erklärte Nora. »Sie ist die andere auf dem Bild neben ihm. Er war einer von Elsie Sigels Chinesen.«
Beide Namen waren für Detective Littlemore von größtem Interesse. Wenn William Leon nicht eine besondere Vorliebe für den Vornamen Elsie hatte, hatte er gerade nicht nur die andere Frau auf der Fotografie identifiziert, sondern auch die Autorin der Briefe aus dem Schrankkoffer – und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Tote selbst.
»Elsie Sigel«, sinnierte Littlemore. »Können Sie mir mehr über sie erzählen, Miss Acton? Eine Jüdin?«
»Um Himmels willen, nein«, entgegnete Nora. »Elsie hat Missionsarbeit gemacht. Sie haben doch bestimmt schon von den Sigels gehört. Ihr Großvater war ziemlich berühmt. Im Riverside Park steht sogar eine Statue von ihm.«
Littlemore pfiff innerlich. General Franz Sigel war tatsächlich ein bekannter Held aus dem Sezessionskrieg und wurde später ein beliebter New Yorker Politiker. Zu seinem Begräbnis 1902 kamen mehr als zehntausend New Yorker, um dem alten, in Galauniform aufgebahrten Mann die letzte Ehre zu erweisen. Es war ziemlich ungewöhnlich, dass die Enkelin eines Generals aus dem Sezessionskrieg Liebesbriefe an den Besitzer eines Restaurants in Chinatown schrieb. Schon dass sie überhaupt an einen Chinesen schrieb, war ungewöhnlich. Er erkundigte sich bei Nora, welche Verbindung zwischen Miss Sigel und William Leon bestand.
Nora erzählte ihm das wenige, das sie wusste. Im Frühling hatten sie und Clara einem Wohltätigkeitsverein von Mr. Rii ihre Dienste angeboten. In der ganzen Lower East Side besuchten sie Familien in Mietwohnungen und unterstützten sie nach Kräften. An einem Sonntag begegneten sie in Chinatown Elsie Sigel, die eine Bibelklasse unterrichtete. Ein Schüler von ihr hatte eine Kamera. Nora erinnerte sich noch gut an ihn, weil er sich so deutlich von den anderen unterschied. Er war viel besser gekleidet und drückte sich gewählter aus als der Rest. Nora hatte seinen Namen nicht erfahren, doch Elsie schien ihn gut zu kennen. Und nur aufgrund seiner Freundschaft zu Elsie hatten sich Clara und sie verpflichtet gefühlt, seiner drängenden Bitte um eine Fotografie nachzugeben.
»Wissen Sie, wo Miss Sigel lebt, Miss Acton?«
»Nein, aber zu Hause werden Sie sie wohl kaum antreffen, Detective. Elsie ist im Juli mit einem jungen Mann durchgebrannt. Nach Washington, heißt es allgemein.«
Littlemore nickte und bedankte sich bei Nora. Dann fragte er Mr. Acton, ob er sein Telefon benutzen konnte. Als er das Hauptquartier erreichte, hinterließ er Anweisungen, die Eltern einer gewissen Elsie Sigel, Enkelin von General Franz Sigel aufzuspüren. Falls die Sigels bestätigten, ihre Tochter seit Juli nicht mehr gesehen zu haben, sollten sie unverzüglich zum Leichenschauhaus gebracht werden.
Bei seiner Rückkehr in Noras Zimmer fand er nur noch diese und Mrs. Biggs vor. Der letzte Polizist verließ gerade den Raum und teilte Littlemore mit, dass er weder an den Fenstern noch an den Bettpfosten auf Fingerabdrücke gestoßen war. Und bei den Türgriffen innen und außen war es sowieso hoffnungslos, weil inzwischen zu viele Leute ein und aus gegangen waren. Mrs. Biggs bemühte sich, etwas Ordnung in das von den Beamten hinterlassene Chaos zu bringen. Nora saß noch an genau derselben Stelle wie vorher. Littlemore blickte sich um. »Miss Acton, haben Sie eine Ahnung, wie der Mann letzte Nacht hereingekommen ist?«
»Irgendwie muss er ja – nein, ich habe keine Ahnung.«
Littlemore stand vor einem Rätsel. Es gab nur zwei Eingänge im Haus der Actons, einen vorn und einen hinten. Diese waren die ganze Nacht von
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