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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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ist die Ehe eine gute Sache?«
    »Für die Gesellschaft oder für den Einzelnen?«, fragte Freud. »Für die Gesellschaft ist die Ehe zweifellos vorteilhaft. Aber die Bürde einer zivilisierten Moral ist für viele Menschen schwer zu ertragen. Wie lange sind Sie schon verheiratet, Mrs. Banwell?«
    »Ich habe George mit neunzehn geheiratet«, antwortete Clara. Der Gedanke an die neunzehnjährige Clara Banwell in ihrer Hochzeitsnacht beschäftigte die Gemüter mehrerer Gäste – und nicht nur der männlichen. »Das sind inzwischen sieben Jahre.«
    »Dann wissen Sie also genug«, fuhr Freud fort, »wenn nicht aus eigener Erfahrung, so doch aus der von Freunden, um nicht überrascht zu sein von dem, was ich jetzt sagen werde. Befriedigender Geschlechtsverkehr hält in den meisten Ehen nicht lange vor. Nach vier oder fünf Jahren versagt die Ehe in dieser Hinsicht meist völlig, und wenn das geschieht, ist das auch das Ende der geistigen Gemeinschaft. Daher endet die Ehe in der Mehrzahl der Fälle in einer geistigen und körperlichen Enttäuschung. Psychologisch gesprochen werden der Mann und die Frau auf ihren vorehelichen Zustand zurückgeworfen – mit einem Unterschied allerdings. Sie sind jetzt ärmer. Ärmer durch den Verlust einer Illusion.«
    Clara Banwells intensiver Blick ruhte auf Freud. Einen Moment lang hatte es ihr die Sprache verschlagen.
    »Was sagt er?« Der alte Professor Hyslop schob sein Hörrohr in Freuds Richtung.
    »Er rechtfertigt den Ehebruch.« Es war das erste Mal, dass sich Charles Dana zu Wort gemeldet hatte. »Wissen Sie, Dr. Freud, abgesehen von diesen hübschen Gesellschaftsspielen, überrascht es mich am meisten, wie sehr Sie sich auf die Übel sexueller Frustration versteifen. Unser Problem ist sicherlich nicht, dass wir der sexuellen Zügellosigkeit zu viel Beschränkung auferlegen; im Gegenteil, wir erlegen ihr zu wenig auf.«
    »Ach?«, machte Freud.
    »Auf dieser Erde leben inzwischen eine Milliarde Menschen. Und die Zahl wächst ständig weiter. Wie sollen diese Menschen leben, Dr. Freud? Was sollen sie essen? Jedes Jahr strömen Millionen in unser Land: die Ärmsten, die Unintelligentesten, diejenigen, die am stärksten zur Kriminalität neigen. Wegen dieser Leute steht unsere Stadt am Rand der Anarchie. Unsere Gefängnisse sind überfüllt. Und sie vermehren sich weiterhin wie die Karnickel. Sie bestehlen uns! Natürlich kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Wenn ein Mensch zu arm ist, um seine Kinder zu ernähren, dann muss er zum Dieb werden. Aber wenn ich Ihre Ideen richtig verstanden habe, Dr. Freud, scheinen Sie sich nur mit der Last sexueller Verdrängung zu befassen. Für meine Begriffe sollte sich ein Mann der Wissenschaft mehr um die Gefahren sexueller Emanzipation kümmern.«
    »Was schlagen Sie vor, Charles? Ein Ende der Immigration?«, fragte Jelliffe.
    »Sterilisierung.« Dana tupfte sich lebhaft den Mund ab. »Der einfachste Bauer kann Ihnen sagen, dass sich schlechter Viehbestand nicht vermehren darf. Und Menschen sind ebenso wenig gleich wie Kühe. Wenn sich Kühe frei vermehren könnten, bekämen wir ziemlich armseliges Fleisch auf den Tisch. Darum sollte jeder mittellose Einwanderer sterilisiert werden.«
    »Aber doch nicht unfreiwillig, oder, Charles?« Mrs. Hyslop hatte eine tadelnde Miene aufgesetzt.
    »Niemand zwingt sie, hierherzukommen, Alva«, erwiderte Dana. »Niemand zwingt sie, zu bleiben. Das kann man doch nicht als unfreiwillig bezeichnen. Wenn sie sich unbedingt fortpflanzen wollen, sollen sie eben das Land verlassen. Unfreiwillig daran ist nur, dass wir die Last ihrer lebensuntauglichen Nachkommen ertragen müssen, die zu Bettlern und Dieben werden. Eine Ausnahme mache ich natürlich bei denen, die einen Intelligenztest bestehen. Hervorragende Suppe, Jelliffe, echte Schildkröte, nicht wahr? Ja, ich weiß, jetzt werden Sie mich alle für grausam und herzlos halten. Aber ich nehme ihnen doch nur ihre Fruchtbarkeit. Dr. Freud möchte ihnen etwas viel Wichtigeres wegnehmen.«
    »Und das wäre?«, fragte Clara.
    »Ihre Moral«, antwortete Dana. »Was wäre das für eine Welt, Dr. Freud, wenn sich Ihre Ansichten allgemein durchsetzen würden? Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Die unteren Schichten fangen an, die zivilisierte Moral zu verachten. Die Lust und ihre Befriedigung werden zu Götzen erhoben. Alle verwerfen Disziplin und Selbstverleugnung, ohne die das Leben keine Würde hat. Der Pöbel wird Amok laufen, wie auch nicht? Und was wird dieser

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