Morddeutung: Roman (German Edition)
zwei kräftigen Polizisten bewacht worden, die schworen, keine Menschenseele gesehen zu haben. Sicher, der alte Biggs war vom Schlaf übermannt worden. Das hatten alle Beteiligten bestätigt. Aber er hatte seinen Stuhl direkt vor die Tür zum Zimmer des Mädchens geschoben, immerhin so dicht, dass sie am Morgen über ihn gefallen war. Es wäre sehr schwer gewesen, an Biggs vorbeizukommen, ohne ihn aufzuwecken.
Konnte der Eindringling durch ein Fenster eingestiegen sein? Noras Zimmer lag im ersten Stock. Zum einen gab es keine Haltepunkte, die der Mann auf diesem Weg benutzt haben konnte, und zum anderen wäre er bei seiner Kletterpartie für den vor der Eingangstür postierten Beamten gut sichtbar gewesen, weil das Zimmer auf den Park ging. Konnte er sich vom Dach heruntergelassen haben? Denkbar war es. Das Dach war von den angrenzenden Gebäuden aus zugänglich. Doch die Nachbarn verbürgten sich dafür, dass letzte Nacht niemand in ihre Häuser eingebrochen war. Außerdem schien es Littlemore, dass es einem großen Mann ziemlich schwergefallen wäre, sich durch eins von Noras Fenstern zu zwängen.
Gerade als Detective Littlemore diese Fenster inspizierte – die keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens aufwiesen -, bekam Noras Geschichte erste Risse. Zunächst entdeckte Mrs. Biggs, tief vergraben in Noras Papierkorb, eine ausgedrückte Zigarette. An der Zigarette befand sich Lippenstift. Mrs. Biggs schien sehr verwundert.
Dem Detective ging es nicht anders. »Ist die von Ihnen, Miss Acton?«
»Natürlich nicht. Ich rauche nicht. Ich besitze nicht einmal einen Lippenstift.«
»Und was haben Sie da auf den Lippen?«
Nora schlug sich die Hände vor den Mund. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie von oben beobachtet hatte, wie ihr Banwell Lippenstift auftrug. Irgendwie hatte sie diese eigenartige Sache bisher völlig vergessen. Das ganze Erlebnis war so verschwommen in ihrem Kopf, so merkwürdig nebelhaft. Sie teilte dem Detective mit, was Banwell getan hatte. Wahrscheinlich hatte er auch die Zigarette mit Lippenstift bemalt und sie dann vor seinem Verschwinden in den Papierkorb geworfen. Das Seltsamste an ihrer Erinnerung erwähnte sie nicht: dass sie Banwell nicht von unten, sondern von oben gesehen hatte. Auf jeden Fall betonte sie noch einmal, dass sie kein Make-up besaß.
»Darf ich mich mal ein bisschen in Ihrem Zimmer umsehen, Miss Acton?«
»Ihre Leute haben mein Zimmer doch schon eine Stunde lang auf den Kopf gestellt«, antwortete sie.
»Darf ich trotzdem?«
»Von mir aus.«
Keiner der Polizisten hatte bisher Noras persönliche Dinge angerührt. Das holte Littlemore jetzt nach. In der untersten Schublade ihres Toilettentischs fand er mehrere Kosmetikartikel: Gesichtspuder, ein Fläschchen Parfüm und einen Lippenstift. Auch eine Packung Zigaretten kam zum Vorschein.
»Die Sachen gehören nicht mir«, behauptete Nora. »Ich weiß nicht, wo sie herkommen.«
Littlemore holte die Beamten zurück, um eine gründlichere Durchsuchung des Zimmers vorzunehmen. Wenige Minuten später stieß ein Polizist im obersten Fach des Kleiderschranks, verborgen unter einem Stapel Winterpullover, auf die nächste Überraschung: eine kurze Peitsche mit gebogenem Griff. Littlemore war zwar nicht vertraut mit der mittelalterlichen Praxis des Geißelns, doch selbst für ihn war leicht zu erkennen, dass diese Peitsche Schläge auf schwer zu erreichende Körperstellen – wie zum Beispiel auf den Rücken des Geißlers – ermöglichte.
Bloß gut, dass wir Banwell nicht verhaftet haben, dachte er.
Als ihm ein anderer Beamter einen Fund aus dem Garten vorlegte, wusste der Detective allerdings überhaupt nicht mehr, was er von der Sache halten sollte. Der Wachtmeister war auf den Baum geklettert, um zu sehen, ob man von dort aufs Dach gelangen konnte. Es war nicht möglich, doch auf dem Weg nach unten fiel ihm etwas auf, was er zunächst für eine Münze hielt: ein kleines, rundes Metallstück, das ungefähr dreißig Zentimeter über dem Boden in einer Kerbe des Baumstamms funkelte. Er übergab den Gegenstand Littlemore. Es war eine goldene Krawattennadel mit Monogramm, an deren Verschluss ein weißer Seidenfaden hing. Die Initialen des Monogramms lauteten GB.
Brill erschien ausnahmsweise zu spät zum Frühstück. Er sah fürchterlich aus: unrasiert, verängstigt, ein Krageneck schaute nach oben. Rose, so erzählte er Freud, Ferenczi und mir, hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Vor einer Stunde hatte er ihr
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