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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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hat ihn zum Feigling gemacht und »den Willen geirrt«.
    Für Hamlet ist »Sein« also Stasis, Leiden, Feigheit, Tatenlosigkeit, wohingegen »Nichtsein« verbunden ist mit Mut, Initiative, Handlungsfähigkeit. So wurde der Monolog zumindest immer verstanden. Aber ich frage mich, ob diese Interpretation wirklich ausreichend ist. Ja, am Ende, als Hamlet schließlich gegen seinen Onkel handelt, findet er den Tod. Vielleicht weiß er, dass dies sein Schicksal ist. Aber dennoch kann Sein nicht mit Tatenlosigkeit gleichgesetzt werden. Leben und Handeln sind einfach zu sehr eins. Sein kann nicht Nichtstun heißen. Das ist unmöglich. Hamlet ist gelähmt, weil Handeln und Nichtsein für ihn irgendwie zum Gleichen geworden sind. Und die Tragweite dieser falschen Gleichung, dieser fehlerhaften Entsprechung ist nie voll gewürdigt worden.
    Aber wegen Freud kann ich nicht mehr über Hamlet nachdenken, ohne auf Ödipus zu kommen. Und ich fürchte, ein ähnlicher Schatten hat sich auf meine Gefühle für Miss Acton gelegt. Sollte Freuds Einschätzung zutreffen, dass sich Miss Acton nach Oralverkehr mit ihrem Vater sehnt, fände ich das unerträglich. Ich weiß, das ist völlig irrational von mir. Wenn Freud recht hat, dann haben alle Menschen solche Wünsche. Niemand kann etwas dafür, und niemand sollte deswegen geschmäht werden. Dennoch, sobald ich in Miss Actons Fall von dieser Annahme ausgehe, verliere ich meine Fähigkeit, sie zu lieben. Ich kann die Liebe nicht mehr festhalten, sie entgleitet mir vollkommen. Wie können wir einander lieben, wenn wir derart abstoßende Wünsche in uns tragen?

     
    Der Donnerstagmorgen im Haus der Actons begann mit großem Aufruhr. Nora erwachte bei Tagesanbruch. Wankend erhob sie sich aus dem Bett, stieß die Tür auf und stürzte Kopf voran über Mr. Biggs, der direkt vor ihrem Zimmer in seinem Stuhl schlief. Es wurde Alarm geschlagen, und die Nachricht verbreitete sich: Miss Acton war in der Nacht überfallen worden.
    Die beiden draußen postierten Wachtmeister liefen hektisch treppauf und treppab, ohne etwas auszurichten. Wieder wurde Dr. Higginson geholt. Sichtlich betroffen über den erneuten Angriff auf Nora und die heikle Stelle, an der sich die Brandwunde befand, gab ihr der wohlmeinende alte Doktor eine schmerzlindernde Salbe, die sie nach Bedarf selbst auftragen sollte. Daraufhin nahm er kopfschüttelnd Abschied und versicherte ihren Eltern, dass das Mädchen ansonsten keine Verletzungen davongetragen hatte. Weitere Polizisten trafen am Schauplatz des Geschehens ein. Detective Littlemore, der in der vergangenen Nacht am Schreibtisch eingeschlafen war, kam um acht.
    Er fand Nora und ihre verstörten Eltern im Zimmer des Mädchens. Uniformierte Beamte untersuchten den Teppichboden und die Fenster. Littlemore gab einem der Männer sein Spurensicherungsset und wies ihn an, nach brauchbaren Fingerabdrücken auf Türgriff, Bettpfosten und Fensterbrett zu suchen. Noch im Nachthemd und mit zerzausten Haaren kauerte Nora auf der äußersten Ecke ihres Betts, das reglose Zentrum des Wirbelwinds. Ihr Blick war stumpf und verständnislos. Immer wieder musste sie ihre Aussage wiederholen.
    Es war George Banwell, sagte sie jedes Mal. George Banwell mit einer Zigarette und einem Messer mitten in der Nacht. Sie sollten endlich George Banwell verhaften! Diese Forderung veranlasste Mr. und Mrs. Acton zu heftigen Protesten. George konnte es nicht gewesen sein, das war völlig ausgeschlossen. Und überhaupt, wie wollte sich Nora mitten in der Nacht ihrer Sache so sicher sein?
    Littlemore stand vor einem Problem. Er brauchte mehr Anhaltspunkte, die gegen Banwell sprachen, als die bloße Aussage des Mädchens. Schließlich hatte sich schon einmal gezeigt, dass Miss Actons Gedächtnis nicht unbedingt das verlässlichste war. Schlimmer noch, selbst sie musste einräumen, dass sie den Mann in ihrem Zimmer nicht richtig hatte sehen können; es war zu dunkel gewesen. Sie sagte nur – und Littlemore wäre es weiß Gott lieber gewesen, sie hätte sich anders ausgedrückt -, dass sie Banwell »einfach erkannt« hatte. Wenn Littlemore Banwell verhaften ließ, wäre der Bürgermeister bestimmt nicht besonders erfreut. Gewiss war McClellan sogar dagegen, Banwell auch nur zu einer Vernehmung einzubestellen.
    Alles in allem, so überlegte der Detective, war es wohl besser, die Anordnungen des Bürgermeisters abzuwarten. »Miss Acton, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern eine Frage

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