Morddeutung: Roman (German Edition)
ein wenig Laudanum gegeben. Auch er hatte kaum geschlafen. Er hatte uns etwas mitzuteilen, aber nicht hier in aller Öffentlichkeit. Also begaben wir uns zu viert in Freuds Zimmer und hinterließen unten eine Nachricht für Jones und eine zweite für Jung, auch wenn keiner von uns wusste, ob sich Jung überhaupt im Hotel aufhielt.
»Ich kann es nicht machen«, platzte Brill heraus, als wir oben angelangt waren. »Es tut mir leid, aber ich kann einfach nicht. Jelliffe habe ich schon verständigt.« Offensichtlich sprach er von seiner Übersetzung der Freud-Texte. »Wenn es nur um mich ginge, dann sicher, ich schwöre es – aber ich kann Rose nicht in Gefahr bringen. Sie ist alles, was ich habe. Das versteht ihr doch, oder?«
Wir brachten ihn erst einmal dazu, Platz zu nehmen. Als er sich so weit beruhigt hatte, dass er sich wieder zusammenhängend ausdrücken konnte, versuchte uns Brill davon zu überzeugen, dass die Asche in seiner Wohnung mit den biblischen Telegrammen in Verbindung stand, die er seit Längerem erhielt. »Ihr habt sie doch selbst gesehen.« Er meinte wieder Rose. »Sie haben sie in eine Salzsäule verwandelt. Das stand in dem Telegramm, und genauso ist es passiert.«
»Jemand hat absichtlich gebracht Asche in Ihre Wohnung?«, fragte Ferenczi. »Warum?«
»Als Warnung«, antwortete Brill.
»Von wem?«, warf ich ein.
»Die gleichen Leute, die Prince in Boston haben verhaften lassen. Die gleichen Leute, die Freuds Vorlesungen an der Clark University verhindern wollen.«
Ferenczi war skeptisch. »Woher diese Leute wissen, wo Sie leben?«
»Woher wissen sie wohl, dass Jones mit seinem Dienstmädchen schläft?«, rief Brill.
»Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen«, mahnte Freud. »Allerdings kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich da jemand sehr viele private Informationen über uns beschafft hat.«
Brill zog einen Umschlag aus der Weste, dem er ein winziges, verbranntes Stück Papier entnahm. Druckbuchstaben waren darauf zu sehen: ein deutlich lesbares ü und etwas rechts davon vielleicht die Überreste eines großen H . Sonst war nichts zu erkennen.
»Das habe ich in meinem Wohnzimmer gefunden«, erklärte Brill. »Sie haben mein Manuskript verbrannt. Freuds Manuskript. Und die Asche haben sie in meiner Wohnung verstreut. Nächstes Mal brennen sie das ganze Haus nieder. Das steht im Telegramm: ein Feuerregen; ›stopp, bevor es zu spät ist.‹ Wenn ich Freuds Buch veröffentliche, werden sie Rose und mich umbringen.«
Ferenczi protestierte und hielt Brill vor, dass seine Ängste völlig übertrieben waren.
Doch Freud unterbrach ihn. »Egal, was dahintersteckt, Abraham …« Beschwichtigend tätschelte er Brill die Schulter. »Wir sollten das Buch vielleicht erst mal zurückstellen. Es kann noch warten. Und auf keinen Fall ist es mir so wichtig wie Sie.«
Brill ließ den Kopf hängen und legte seine Hand auf die Freuds. Er war den Tränen nah. In diesem Augenblick klopfte es, und ein Hoteldiener brachte Kaffee und einen Teller Gebäck, die Freud bestellt hatte. Brill richtete sich ein wenig auf und akzeptierte sogar eine Tasse Kaffee. Er schien ungeheuer erleichtert durch Freuds Äußerung, so als wäre ihm eine große Last von den Schultern genommen worden. Nachdem er sich geschnäuzt hatte, schlug er wieder seinen altvertrauten, halb scherzhaften Ton an. »Um mich sollten Sie sich keine Sorgen machen. Eher schon um Jung. Ferenczi und ich halten Jung nämlich für psychotisch. Das ist unsere wohlüberlegte fachliche Meinung. Sagen Sie doch auch mal was dazu, Sándor.«
»Nun, psychotisch ich würde nicht behaupten«, erwiderte Ferenczi, »aber ich sehe Hinweise für möglichen Zusammenbruch.«
»Unsinn«, widersprach Freud. »Was für Hinweise?«
»Er hört Stimmen«, antwortete Ferenczi. »Er beschwert sich, dass Brills Boden ist weich unter Füßen. Bemerkungen sind sprunghaft. Und er erzählt wildfremden Leuten, dass Großvater zu Unrecht wurde angeklagt wegen Mordes.«
»Dafür gibt es auch andere Erklärungen als eine Psychose.« Freud hatte offenbar seine eigene Theorie dazu, die er aber nicht ausführte.
Ich überlegte, ob ich Jungs bestürzende Deutung von Freuds Traum über Graf Thun erwähnen sollte, verzichtete aber lieber darauf, weil Freud vielleicht nicht mit Brill und Ferenczi darüber sprechen wollte. Schon im nächsten Moment erwies sich meine Rücksicht als unbegründet.
»Und außerdem behauptet er noch, dass Sie vor zehn Jahren von ihm geträumt
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