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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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er dann tabu?«
    »Tabu?«
    »Ja. Wie kann es sein, dass es in jeder menschlichen Gesellschaft, die je existiert hat, ein Inzestverbot gibt, wenn niemand ihn je gewünscht hat?«
    »Weil … weil … viele Dinge sind tabu, die nicht wirklich gewünscht werden.«
    »Nennen Sie mir eins.«
    »Nun, viele Dinge eben. Eine ganze Liste.«
    »Nennen Sie mir eins.«
    »Also … zum Beispiel die prähistorischen Tierkulte, die Totems, die sind … äh …« Jung war außerstande, seinen Satz zu Ende zu führen.
    »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«, fuhr Freud fort. »Sie sagen, Sie sind durch die Deutung eines Traums zu dieser Erkenntnis gelangt. Mich würde interessieren, was das für ein Traum war. Vielleicht ist auch eine andere Deutung denkbar?«
    »Ich habe nicht gesagt, durch die Deutung eines Traums. Ich habe gesagt, im Traum. Eigentlich habe ich nur so halb geschlafen.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Sie kennen doch die Stimmen, die man am Abend kurz vor dem Einschlafen hört. Durch Übung ist es mir gelungen, sie zu verstehen. In einer von ihnen liegt uralte Weisheit. Ich habe diesen Weisen sogar gesehen. Es ist ein alter Mann, ein ägyptischer Gnostiker namens Philemon. Er hat mir dieses Geheimnis verraten.«
    Freud blieb stumm.
    »Ich lasse mich von Ihrer skeptischen Haltung nicht einschüchtern«, bemerkte Jung. »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Herr Professor, als sich Ihre Psychologie erträumt.«
    »Mag sein. Aber sich von einer Stimme leiten zu lassen, Jung?«
    »Vielleicht haben Sie einen falschen Eindruck gewonnen«, antwortete Jung. »Ich nehme Philemons Worte nicht einfach so hin. Er hat seine Aussage anhand einer Exegese der primitiven Mutterkulte begründet. Ich versichere Ihnen, ich habe ihm nicht von Anfang an geglaubt. Ich habe mehrere Einwände erhoben, die er jedoch alle widerlegen konnte.«
    »Sie unterhalten sich mit ihm?«
    »Anscheinend sind Sie nicht sehr glücklich über meine Innovation Ihrer Theorie.«
    »Die Quelle dieser Innovation macht mir Sorgen«, antwortete Freud.
    »Nein, Sie machen sich Sorgen um Ihre Theorien, um Ihre Sexualtheorien.« Jung war der wachsende Zorn anzusehen. »Also wechseln Sie das Thema und wollen mich in ein Gespräch über das Übernatürliche verwickeln. Aber ich lasse mich nicht verwickeln. Ich habe meine objektiven Gründe.«
    »Die Ihnen ein Geist genannt hat?«
    »Die Tatsache, dass Sie solche Phänomene noch nie erlebt haben, erlaubt noch lange nicht den Schluss, dass sie nicht existieren.«
    »Zugegeben. Aber es muss Beweise geben, Jung.«
    »Ich habe ihn gesehen, das schwöre ich!«, rief Jung. »Warum ist das kein Beweis? Er hat geweint bei der Beschreibung, wie die Pharaos die Namen ihrer Väter von den Grabmälern gekratzt haben – von dieser Tatsache wusste ich damals gar nichts, aber ich habe es später in Büchern nachgeschlagen. Wie kommen Sie dazu, zu bestimmen, was ein Beweis ist und was nicht? Sie ziehen Ihre Schlussfolgerung, dass er nicht existiert; und deshalb zählt, was ich sehe und höre, nicht als Beweis.«
    »Was Sie hören, Carl. Es ist kein Beweis, wenn nur ein Mensch es hört.«
    Plötzlich ertönte hinter dem Sofa, auf dem Freud saß, ein merkwürdiges Geräusch: ein Knarren oder Ächzen, als wollte sich etwas aus der Wand befreien. »Was war das?«, fragte Freud.
    »Ich weiß nicht.«
    Das Knarren wurde immer lauter, bis es den ganzen Raum erfüllte. Dann brach es mit einem splitternden Krachen ab wie ein Donnerschlag.
    »Um Himmels willen«, rief Freud.
    »Ich kenne dieses Geräusch.« Ein triumphierendes Leuchten trat in Jungs Augen. »Ich habe es schon einmal gehört. Da haben Sie Ihren Beweis! Das war eine katalytische Exteriorisation.«
    »Eine was?«
    »Eine Strömung innerhalb der Psyche, die sich in einem externen Gegenstand manifestiert«, erklärte Jung. »Ich habe dieses Geräusch erzeugt!«
    »Ach, kommen Sie, Jung. Für mich hat sich das angehört wie ein Schuss.«
    »Sie täuschen sich. Und um es zu beweisen, werde ich es erneut erzeugen – noch in diesem Augenblick!«
    Kaum hatte Jung diese bemerkenswerte Ankündigung ausgesprochen, als das Ächzen von Neuem begann. Genau wie zuvor schwoll es zu einem schier unerträglichen Höhepunkt an und endete mit einem ohrenbetäubenden Knall.
    »Was sagen Sie jetzt?«
    Freud sagte gar nichts. Er war ohnmächtig geworden und rutschte vom Sofa.

     
    Auf dem Rückweg vom Hafen setzte Detective Littlemore die Steinchen des Mosaiks zusammen. Es war der erste

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