Morddeutung: Roman (German Edition)
Praxis immer wieder bestätigt gefunden und auf diese Weise seine anfängliche Skepsis überwunden.
»Wir haben immer offen miteinander geredet«, begann Freud. »Können wir das auch jetzt?«
»Nichts ist mir lieber«, antwortete Jung. »Vor allem jetzt, da ich mich aus Ihrem väterlichen Bannkreis befreit habe.«
Freud ließ sich seine Bestürzung nicht anmerken. »Gut, gut. Kaffee?«
»Nein, danke. Ja, es ist gestern geschehen, als Sie das Geheimnis Ihres Graf-Thun-Traumes nicht preisgeben wollten, um Ihre Autorität zu wahren. Eine paradoxe Fügung: Sie haben gefürchtet, sie zu verlieren, und infolgedessen haben Sie sie verloren. Ihre Autorität war Ihnen wichtiger als die Wahrheit; doch für mich kann keine andere Autorität gelten als die Wahrheit. Nun, es ist besser so. Ihre Sache wird durch meine Unabhängigkeit nur umso besser gedeihen. Und sie gedeiht schon jetzt. Ich habe das Inzestproblem gelöst!«
Aus diesem Wortschwall blieben zwei Worte bei Freud hängen: » Meine Sache?«
»Wie?«
»Sie haben von ›Ihrer Sache‹ gesprochen.«
»Das habe ich nicht.«
»Doch das haben Sie. Schon zum zweiten Mal.«
»Nun, es ist doch Ihre Sache – Ihre und meine. Sie wird jetzt unendlich viel stärker sein. Haben Sie nicht gehört? Ich habe das Inzestproblem gelöst.«
»Was meinen Sie mit ›gelöst‹?«, fragte Freud. »Welches Problem denn?«
»Wir wissen, dass der erwachsene Sohn seine Mutter mit ihren Krampfadern und hängenden Brüsten nicht tatsächlich begehrt. Und auch nicht als Säugling, der keine Ahnung von Penetration hat. Warum also dreht sich die Neurose des Erwachsenen so häufig um den Ödipuskomplex, wie dies von Ihren und meinen Fällen bestätigt wird? Die Antwort ist mir letzte Nacht in einem Traum eingefallen. Der erwachsene Konflikt reaktiviert das infantile Material . Die unterdrückte Libido des Neurotikers wird in ihre kindlichen Kanäle zurückgedrängt – so wie Sie es immer gesagt haben! -, wo sie die Mutter findet, die einst so große Bedeutung für ihn hatte. Die Libido klammert sich an sie, ohne dass die Mutter jemals wirklich begehrt wurde.«
Diese Äußerungen führten bei Sigmund Freud zu einer seltsamen körperlichen Reaktion. In die Adern um seine Großhirnrinde strömte das Blut, und er spürte eine merkwürdige Schwere im Kopf. Er schluckte. »Sie leugnen also den Ödipuskomplex?«
»Keineswegs. Wie könnte ich? Der Begriff stammt doch von mir.«
»Der Begriff Komplex stammt von Ihnen«, korrigierte ihn Freud. »Den Komplex behalten Sie also bei, aber das Ödipale leugnen Sie.«
»Nein!«, rief Jung. »Ich bewahre all Ihre grundlegenden Erkenntnisse. Neurotiker leiden unter einem Ödipuskomplex. Aufgrund ihrer Neurose glauben sie, dass sie ihre Mutter sexuell begehrt haben.«
»Damit wollen Sie also behaupten, dass es keine wirklichen Inzestwünsche gibt. Zumindest nicht bei gesunden Menschen.«
»Nicht einmal bei den Neurotikern! Es ist fantastisch. Der Neurotiker entwickelt einen Mutterkomplex, weil seine Libido in ihre infantilen Kanäle zurückgedrängt wird. Somit findet der Neurotiker einen wahnhaften Vorwand, um sich zu bestrafen. Er hat Schuldgefühle wegen eines Wunsches, den er nie empfunden hat.«
»Ich verstehe. Und was ist dann die Ursache der Neurose?«, fragte Freud.
»Sein gegenwärtiger Konflikt. Irgendein Begehren, das sich der Neurotiker nicht eingestehen will. Irgendeine Lebensaufgabe, der er sich nicht stellen möchte.«
»Ah, der gegenwärtige Konflikt also.« Freud spürte jetzt keine Schwere mehr im Kopf, sondern im Gegenteil eine eigenartige Leichtigkeit. »Dann gibt es also keinen Grund, in der sexuellen Vergangenheit des Patienten oder überhaupt in seiner Kindheit nachzuforschen.«
»Genau. Mir hat das sowieso nie eingeleuchtet. Aus einer rein klinischen Perspektive betrachtet, ist es der gegenwärtige Konflikt, der aufgedeckt und durchgearbeitet werden muss. Das reaktivierte sexuelle Material aus der Kindheit kann freigelegt werden, aber es ist nur ein Köder, eine Falle. Dahinter steckt nichts anderes als der Versuch des Patienten, seiner Neurose zu entfliehen. Ich bin gerade dabei, alles aufzuschreiben. Sie werden sehen, um wie viel mehr Anhänger die Psychoanalyse gewinnen kann, wenn die Rolle der Sexualität zurückgedrängt wird.«
»Ach, eliminieren Sie sie doch gleich – dann haben wir noch mehr Erfolg«, versetzte Freud. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Wenn der Inzest nicht wirklich gewünscht wird, warum ist
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