Morddeutung: Roman (German Edition)
Mord, den er je aufgeklärt hatte. Er freute sich schon auf Mr. Hugels Gesicht.
Es war nicht Harry Thaw; nein, es war von Anfang an George Banwell gewesen. Banwell hatte Miss Riverford ermordet und die Tote später aus dem Leichenschauhaus entwendet. Littlemore malte sich aus, wie Banwell zum Fluss gefahren war, die Leiche hinaus auf den Pier geschleppt und sie dann im Aufzug hinunter in den Senkkasten geschafft hatte. Banwell hatte natürlich einen Schlüssel, mit dem er die Fahrstuhltür aufschließen konnte. Und der Senkkasten war der ideale Ort, um eine Leiche loszuwerden.
Doch Banwell war selbstverständlich davon ausgegangen, dass er dort unten allein war. Bestimmt war er ziemlich überrascht gewesen, plötzlich auf Malley zu stoßen. Wie hätte er erklären sollen, dass er mitten in der Nacht mit einer Leiche im Schlepptau aufkreuzte? Er konnte es nicht erklären, also musste er Malley beseitigen.
Das klemmende Fenster fünf und Banwells Reaktion darauf untermauerten Littlemores Schlussfolgerungen. Natürlich hatte Banwell keine Lust darauf, dass jemand entdeckte, warum Fenster fünf klemmte.
Wie er da atemlos auf der Canal Street dahinpreschte, sah der Detective schon alles kommen – alles, bis auf den großen schwarz-roten Wagen, einen Stanley Steamer, der ihn in einem Abstand von einem halben Block verfolgte. Als er die Straße überquerte, sah er seine Beförderung zum Lieutenant vor sich; er sah, wie ihn der Bürgermeister persönlich dekorierte; er sah Bettys bewundernde Blicke für seine neue Uniform; nur den plötzlich nach vorn schießenden Steamer sah er nicht. Er sah nicht, dass der Wagen einen leichten Schwenk machte, um ihn voll zu rammen, und natürlich sah er auch nicht, wie er durch die Luft segelte, nachdem ihn die Stoßstange des Automobils von den Beinen gerissen hatte.
Littlemore lag hingestreckt auf der Canal Street, während der Wagen durch die Second Avenue davonraste. Einige der entsetzten Zeugen riefen dem flüchtenden Fahrer Verwünschungen nach. Einer beschimpfte ihn als Mörder. Zufällig stand an der Ecke ein Streifenpolizist. Er eilte zu dem Gestürzten, der gerade noch genügend Kraft hatte, um dem Officer etwas ins Ohr zu flüstern. Stirnrunzelnd nickte der Polizist. Erst nach zehn Minuten erschien ein von Pferden gezogener Unfallwagen. Ohne sich lange mit dem Krankenhaus aufzuhalten, schafften die Sanitäter den Detective gleich ins Leichenschauhaus.
Jung packte Freud unter den Schultern und legte ihn aufs Sofa. Plötzlich erschien ihm Freud alt und kraftlos, sein furchterregendes Urteilsvermögen erlahmt wie die baumelnden Arme und Beine. Nach wenigen Sekunden kam Freud wieder zu sich. »Wie süß muss doch das Sterben sein.«
»Ist Ihnen unwohl?«, fragte Jung.
»Wie haben Sie das gemacht? Dieses Geräusch?«
Jung zuckte die Achseln.
»Ich werde mich noch einmal mit der Parapsychologie befassen – mein Wort darauf«, sagte Freud. »Und Brills Verhalten, es tut mir wirklich leid. Er spricht nicht für mich.«
»Ich weiß.«
»Seit einem Jahr habe ich Sie so mit Beschlag belegt, dass Sie mich nicht mehr über Ihre eigenen Angelegenheiten unterrichten konnten. Das ist mir klar. Und ich verspreche Ihnen auch, die übertriebene Libidobetonung zurückzunehmen. Aber ich mache mir Sorgen, Carl. Ferenczi hat Ihr … Dorf gesehen.«
»Ja, ich habe eine neue Methode gefunden, um die Kindheitserinnerungen wiederzuerwecken. Durch Spielen. Als Junge habe ich immer ganze Städte gebaut.«
»Ich verstehe.« Freud setzte sich auf, ein Taschentuch an die Stirn gedrückt. Er akzeptierte ein Glas Wasser von Jung.
»Lassen Sie sich von mir analysieren«, drängte Jung. »Ich kann Ihnen helfen.«
» Mich analysieren? Ach so, wegen meiner Ohnmacht von eben. Sie meinen, das war neurotisch bedingt?«
»Selbstverständlich.«
»Ich stimme Ihnen zu. Aber ich kenne die Ursache bereits.«
»Ihr Ehrgeiz. Er hat Sie blind gemacht, entsetzlich blind. So wie ich es war.«
Freud holte tief Luft. »Blind, meinen Sie, gegen meine Furcht vor der Entthronung, gegen meinen Neid auf Ihre Erfolge, gegen mein unermüdliches Bemühen, Sie nicht aufsteigen zu lassen?«
Jung fuhr auf. »Sie haben es gewusst?«
»Ich habe gewusst, was Sie sagen würden. Was habe ich getan, um solche Vorwürfe zu rechtfertigen? Habe ich mich nicht allenthalben für Sie eingesetzt, meine Patienten an Sie weitergeleitet, Sie zitiert und Ihr Ansehen gefördert? Habe ich nicht alles in meiner Macht Stehende für
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