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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Sie getan, auch wenn ich dabei alte Freunde kränken musste? Habe ich Ihnen nicht Positionen übertragen, die ich selbst hätte behalten können?«
    »Aber das Wichtigste wissen Sie nicht zu schätzen: meine Entdeckungen. Ich habe das Inzestproblem gelöst. Das ist eine bahnbrechende Leistung. Doch Sie achten sie gering.«
    Freud rieb sich die Augenlider. »Ich versichere Ihnen, dass es nicht so ist. Die enorme Tragweite dieser Entdeckung ist mir nur allzu bewusst. Sie haben uns ja auf der George Washington einen Traum erzählt, wissen Sie noch? Sie sind tief unten in einem Keller oder einer Höhle, viele Schichten unter dem Erdboden. Sie sehen ein Skelett. Sie haben gesagt, die Knochen stammen von Ihrer Frau Emma und ihrer Schwester.«
    »Kann sein«, sagte Jung. »Warum?«
    »Kann sein?«
    »Ja, es stimmt. Was ist damit?«
    »Wessen Knochen waren das in Wirklichkeit?«
    »Was meinen Sie?«, fragte Jung.
    »Sie haben gelogen.«
    Jung antwortete nicht.
    »Kommen Sie«, rief Freud, »ich erlebe jetzt schon seit zwanzig Jahren, wie Patienten mir etwas vorschwindeln und Ausflüchte suchen – glauben Sie wirklich, dass ich so was nicht durchschaue?«
    Jung schwieg noch immer.
    »Es war mein Skelett, nicht wahr?«
    »Und wenn es so ist? Der Traum hat mir gezeigt, dass ich dabei bin, Sie zu überflügeln. Ich wollte Ihre Gefühle schonen.«
    »Sie wollten, dass ich tot bin, Carl. Sie haben mich zu Ihrem Vater gemacht, und jetzt wollen Sie meinen Tod.«
    »Ich verstehe«, bemerkte Jung. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Meine theoretischen Neuerungen sind ein Versuch, Sie zu stürzen. Das sagen Sie doch immer, stimmt’s? Wenn jemand anderer Meinung ist als Sie, kann es sich nur um ein neurotisches Symptom handeln. Ein innerer Widerstand, ein ödipaler Wunsch, ein Vatermord – alles, nur nicht die objektive Wahrheit. Verzeihen Sie mir, wenn mich ausnahmsweise der Wunsch nach geistigem Verständnis geleitet hat. Nicht diagnostiziert will ich werden, sondern verstanden. Aber vielleicht ist das in der Psychoanalyse gar nicht möglich. Vielleicht besteht der eigentliche Zweck der Psychoanalyse darin, andere durch subtiles Geraune über ihre Komplexe zu beschimpfen und zu lähmen – als ob damit irgendwas erklärt wäre. Was für eine bodenlose Theorie!«
    »Hören Sie sich doch mal selbst zu, Jung. Hören Sie, was Sie sagen. Ich bitte Sie inständig, die Möglichkeit, nur die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass hier Ihr ›Vaterkomplex‹ – Ihre eigenen Worte – am Werk ist. Es wäre einfach schrecklich, wenn Sie sich öffentlich zu Auffassungen bekennen würden, deren Beweggründe Sie erst später einsehen!«
    »Sie haben mich gefragt, ob wir ehrlich miteinander reden können«, erwiderte Jung. »Und das werde ich jetzt auch tun. Ich durchschaue Sie. Ich weiß, was Sie für ein Spiel treiben. Bei allen anderen stöbern Sie die Symptome auf, kein Versprecher entgeht Ihnen, ständig zielen Sie auf die Schwachstellen der Menschen und machen sie zu Kindern, während Sie die Oberhand behalten und die Autorität des Vaters genießen. Niemand wagt es, den Vater am Bart zu zupfen. Ich kann nur sagen, dass ich nicht im Geringsten neurotisch bin. Ich bin nicht derjenige, der hier in Ohnmacht fällt. Ich leide nicht an Inkontinenz. Aber wenigstens eine wahre Sache haben Sie heute gesagt: Ihre Ohnmacht ist neurotisch bedingt. Ja, ich habe unter einer Neurose gelitten – aber unter Ihrer , nicht unter meiner. Ich glaube, Sie hassen Neurotiker, und die Psychoanalyse ist Ihr Ventil dafür. Sie machen uns alle zu Ihren Söhnen und lauern nur auf Zeichen der Aggression von uns – doch dass diese Aggressionen auftreten, dafür haben Sie selbst gesorgt. Und dann gehen Sie auf uns los und schreien Ödipus oder Todeswunsch. Nun, Ihre Diagnosen interessieren mich einen feuchten Dreck.«
    Vollkommene Stille herrschte im Zimmer.
    »Natürlich werden Sie dies alles als Kritik auffassen.« Ein Hauch von Zaghaftigkeit hatte sich in Jungs Stimme gestohlen. »Dabei sind meine Worte freundschaftlich gemeint.«
    Freud nahm eine Zigarre heraus.
    »Es geht mir nicht um mich, sondern um Sie«, setzte Jung hinzu.
    Freud trank sein Glas Wasser leer. Ohne seine Zigarre anzuzünden, stand er auf und ging zur Zimmertür. »Unter uns Psychoanalytikern gilt eine stillschweigende Vereinbarung. Niemand muss seine eigenen kleinen Neurosen als peinlich empfinden. Aber sich als personifizierte Gesundheit hinzustellen, während man gleichzeitig ein

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