Morddeutung: Roman (German Edition)
kam mit einem Ruck zum Stehen. Es gab eine Luftschleuse, die wir betätigen mussten. Littlemore kniete sich hin, um an den Druckhähnen zu drehen, die knapp über dem Boden angebracht waren. Luft strömte in einem starken Strahl herein. Und mit ihr ein eigenartiger, zugleich trockener und modriger Geruch. Der Luftdruck wurde unerträglich. In meinem Schädel begann es zu hämmern. Meine Augen fühlten sich an, als würden sie in mein Gehirn gepresst. Der Detective litt offensichtlich unter den gleichen Symptomen; er blies heftig durch die Nase, die er sich gleichzeitig zukniff. Ich bekam Angst, das Trommelfell könnte ihm platzen. Doch genau wie mir gelang es ihm schließlich, sich an den Druck zu gewöhnen. Wir öffneten die Tür zum Senkkasten.
Um halb drei Uhr morgens stand Nora Acton auf, unbehelligt, aber auch unfähig zu schlafen. Durch das Fenster sah sie den Polizisten, der auf dem Gehsteig wachte. Heute waren es sogar drei Beamte: einer vorn, einer hinten und einer auf dem Dach, der seinen Posten erst bei Einbruch der Nacht bezogen hatte.
Im Kerzenlicht verfasste Nora einen kurzen Brief, den sie in ihrer sauberen Handschrift auf einen weißen Bogen Papier schrieb. Sie schob ihn in ein kleines Kuvert, das sie mit Adresse und Marke versah. Dann schlich sie sich hinunter und ließ den Umschlag durch den Briefschlitz in der Eingangstür gleiten, von wo aus er in den Kasten draußen fiel. Die Post kam zweimal am Tag. Der Bote würde den Brief vor sieben Uhr mitnehmen und ihn bestimmt noch vor Mittag zustellen.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, was für ein riesiger Raum mich dort unten erwartete. Zahlreiche blaue Gasflammen an den Wänden des Senkkastens warfen Spinnweben aus flackerndem Licht und Schatten hinauf zu den Balken und hinab auf den mit Pfützen übersäten Boden. Vom Aufzug stiegen wir eine steile Rampe hinunter. Littlemore hatte sichtlich Mühe und zog bei jedem Aufsetzen des rechten Beins eine Grimasse. Wir befanden uns am Ausgangspunkt von sechs Bohlenwegen, die in alle Richtungen führten. In der Ferne war ein Raum neben dem anderen zu sehen.
»Wie lang haben wir, Doc?«
»Zwanzig Minuten. Wenn es länger dauert, müssen wir auf dem Weg nach oben dekomprimieren.«
»Okay. Wir brauchen Fenster fünf. Die Zahlen stehen wahrscheinlich drauf. Teilen wir uns auf.«
Heftig humpelnd setzte sich der Detective in die eine Richtung in Bewegung, ich in die andere. Zuerst herrschte bloß Stille, eine unheimliche, höhlenhafte Stille, nur unterbrochen von hallenden Wassertropfen und Littlemores ungleichmäßigen, leiser werdenden Schritten. Dann fiel mir ein abgrundtiefes Brummen auf, das sich anhörte wie das Knurren eines riesigen Tiers. Das musste das Rauschen des Flusses sein.
Der Senkkasten war merkwürdig leer. Ich hatte Maschinen erwartet – Spuren von Bau- und Aushubarbeiten. Doch zwischen verstreuten Felsbrocken und dunklen Pfützen lagen nur einige Stemmeisen und zerbrochene Schaufeln herum. Ich trat in einen großen Raum, der aber anscheinend nicht nach außen lag, denn ich sah keinen von den Schuttschächten, die Littlemore als Fenster bezeichnet hatte. Unter meinem Fuß zerbrach eine Planke. Dem Knirschen folgte ein trippelndes Geräusch. Konnte es hier Mäuse geben, dreißig Meter unter der Erdoberfläche?
Das Trippeln hörte so jäh auf, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es tatsächlich oder nur in meinem Kopf vernommen hatte. Ich ging durch einen weiteren Raum, der genauso leer war wie der erste. Der Bohlenweg endete. Jetzt musste ich durch Pfützen auf morastigem Boden waten, und das Platschen hallte von allen Seiten wider. Im nächsten Raum säumten drei große Stahlplatten in einer Höhe von sechzig Zentimetern die hintere Wand. Ich hatte die Fenster gefunden. Neben und zwischen ihnen hing ein Gewirr von Ketten, wohl eine Art Zugvorrichtung. Das erste trug die Nummer sieben. Das zweite die Nummer sechs. Als ich mich zum letzten Fenster vorbeugte, packte mich plötzlich eine Hand an der Schulter.
»Wir haben es gefunden, Doc«, sagte der Detective.
»Mein Gott, Littlemore.«
Er entriegelte die Platte mit der Nummer fünf und zog sie am Griff nach oben. Sie hob sich wie ein Vorhang und verschwand in der Holzwand darüber. Drinnen kam ein sarggroßer Raum zum Vorschein, sechzig Zentimeter hoch und knapp zwei Meter breit. Er war auf allen Seiten mit Eisen verkleidet und übersät mit Steinen, Schutt und Lumpen. Die hintere Wand der Kammer war offensichtlich eine Luke,
Weitere Kostenlose Bücher