Morddeutung: Roman (German Edition)
die zum Fluss hinausführte. Wahrscheinlich wurde sie mit einer der Zugketten geöffnet.
»Da ist nichts«, bemerkte ich.
»War auch nicht zu erwarten.« Mit einiger Mühe setzte sich Littlemore hin und fing an, die Schuhe auszuziehen. »Okay, sobald ich drin bin, machen Sie das Fenster zu und fluten es. Sie geben mir eine Minute, Doc, genau eine Minute, dann …«
»Warten Sie – Sie wollen doch nicht raus ins Wasser?«
»Klar, was denn sonst.« Er rollte sich die Hosenbeine hoch. »Die Leiche ist direkt vor der Außenluke. Muss so sein. Ich zieh sie rein. Dann spülen Sie mich raus, und ich bin wieder im Trockenen.«
»Mit Ihrem Bein?«
»Das haut schon hin.«
»Aber Sie können doch kaum laufen!«
Der Zustand seines Beins – ich vermutete einen Haarriss im Knochen – hätte ihm schon beim normalen Schwimmen Schmerzen bereitet, doch sich dreißig Meter unter der Wasseroberfläche mit Schutt oder einer Leiche herumzuschlagen war völlig ausgeschlossen. Da würde schon eine starke Strömung genügen, um ihn fortzureißen.
»Anders geht’s nicht«, erwiderte Littlemore.
»Doch, es geht anders. Ich mache es.«
»Kommt nicht infrage.« Der Detective ging in die Hocke, um sich in die Kammer zu zwängen, aber er konnte das rechte Bein nicht anwinkeln. Er drehte sich um und versuchte vergeblich, sich rückwärts in den Hohlraum zu schieben. Hilflos sah er mich an.
»Ach, kommen Sie schon raus da«, rief ich. »Sie wissen doch sowieso besser, wie dieser Apparat funktioniert.«
Und so war es erstaunlicherweise ich, der sich eine Minute später, bis auf die Hose entkleidet, in den sargähnlichen Raum eingesperrt fand. Ich sah mich so genau wie möglich in der Kammer um in dem Wissen, dass in der nächsten Minute kaltes Wasser über mich hinwegspülen würde. An der Decke saß ein Eisengriff, an den ich mich mit aller Kraft klammerte. Aus den Wänden ragten Gummiröhren. Ich nahm mir vor, mich nur so kurz wie möglich ins Wasser hinauszuwagen. Nach sechzig Sekunden würde Littlemore das Fenster von innen wieder öffnen. Ich hatte den starken Verdacht, dass sich dort draußen keine Leiche befand, die ich hereinhieven musste. Littlemores Theorie kam mir inzwischen völlig abwegig vor. Die Luken des Fensters waren viel zu schwer und stark. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Leiche einer Frau so eine Platte blockieren sollte.
Littlemore rief mir ein letztes Mal etwas zu. Dann schloss sich hinter mir klirrend die innere Luke. Die Schwärze war so vollkommen, dass ich völlig die Orientierung verlor. Irgendwie hatte ich mir nicht klargemacht, dass mich absolute Dunkelheit umfangen würde. Das Brodeln des Flusses draußen war hier viel lauter und hallte in meiner engen Zelle wider. Ich hörte ein Pochen an der Wand – Littlemores Signal, dass er gleich die Außenluke öffnen würde.
In diesem Moment überfiel mich eine böse Ahnung. Wir hätten das Fenster erst ausprobieren müssen. Wir wussten doch, dass es nicht richtig funktionierte. Wenn nun Littlemore das Fenster nicht mehr öffnen konnte, nachdem ich von Wasser überspült war? Ich hämmerte mit der Faust gegen die Wand, um Littlemore aufzuhalten. Doch entweder hörte er mich nicht, oder er deutete mein Klopfen als Bestätigung. Als Nächstes hörte ich jedenfalls das Rasseln von Ketten, und plötzlich schlug unglaublich kaltes Wasser über mir zusammen. Die ganze Kammer drehte sich, und ich wurde mit unwiderstehlicher Kraft in die Tiefen des Flusses hinausgezerrt.
Vor dem gusseisernen Zaun um den Gramercy Park wartete ein großer, dunkelhaariger Mann im Schatten. Es war drei Uhr morgens. Der Park war leer und wurde nur schwach von vereinzelten Gaslaternen erleuchtet. Alle umliegenden Häuser waren dunkel, bloß in einem – dem Players Club – brannten Lichter und spielte Musik. Still und schwarz stand die Calvary Church da, und ihr Turm ragte als ungreifbare Masse in den Himmel.
Der dunkelhaarige Mann bemerkte den Polizeibeamten, der vor dem Haus der Actons patrouillierte. Im kleinen Lichtkreis einer Straßenlaterne beobachtete C. G. Jung, wie sich dieser Beamte mit einem anderen Polizisten unterhielt, der seinen Kollegen nach einigen Minuten verließ und an der Ecke in eine Seitengasse verschwand, die anscheinend zur Rückseite des Hauses führte. Jung überlegte angestrengt. Nach einer Weile machte er schließlich kehrt und stapfte frustriert zurück ins Hotel Manhattan.
Littlemore wurde plötzlich von einem schrecklichen Gedanken
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