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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Luft im Schacht verdrängte. Das Dröhnen der Maschinen an der Oberfläche war jetzt weit weg – nur noch ein dumpfes Pochen, das man eher spürte als hörte.
    »Vor langer Zeit hatte ich mal eine Patientin. Sie hat mir erzählt … sie hat mir erzählt, dass sie Sex mit ihrem Vater haben wollte.« Ohne lange Überlegung war es aus mir herausgesprudelt.
    »Was?«
    »Sie haben mich genau verstanden.«
    »Das ist doch widerlich.«
    »Nicht wahr?«
    »So was Widerliches hab ich noch nie gehört«, stellte der Detective fest.
    »Also, ich …«
    »Ich möchte lieber nichts mehr davon hören.«
    »Schon gut.« Meine Stimme war viel lauter als beabsichtigt. Der Hall schwirrte schier unendlich durch die Aufzugskabine. »Tut mir leid.«
    »Kein Problem. Mein Fehler«, antwortete Littlemore, obwohl es natürlich nicht sein Fehler war.
    Für meinen Vater wäre es undenkbar gewesen, so die Beherrschung zu verlieren. Er verriet nie seine Gefühle. Mein Vater lebte nach einem einfachen Grundsatz: nie aus freien Stücken Schmerz zeigen. Lange Zeit dachte ich, dass Schmerz wohl das Einzige war, was er empfand – wenn es etwas anderes gegeben hätte, so sagte ich mir, hätte er es doch zum Ausdruck bringen können, ohne gegen seinen Grundsatz zu verstoßen. Erst später habe ich ihn verstanden. Alle Gefühle sind auf die eine oder andere Art schmerzhaft. Selbst die höchste Freude versetzt einem einen Stich ins Herz, und die Liebe – die Liebe ist eine Krise der Seele. Also konnte mein Vater dank seiner Prinzipien überhaupt keine Gefühle zeigen. Er musste nicht nur verbergen, was er fühlte, sondern auch, dass er fühlte.
    Meine Mutter hasste sein unkommunikatives Wesen – ihrer Meinung nach hat es ihn schließlich das Leben gekostet -, aber für mich war es seltsamerweise das an ihm, was ich am meisten bewunderte. An dem Abend, als er sich das Leben nahm, war sein Benehmen bei Tisch nicht anders als sonst. Auch ich verstelle mich jeden Tag meines Lebens. Ich folge zur Hälfte dem Grundsatz meines Vaters, auch wenn ich ihn nicht im Entferntesten so gut beherrsche wie er. Schon vor Langem habe ich etwas beschlossen: Ich werde aussprechen, was ich fühle, aber meine Empfindungen nie auf andere Weise zu erkennen geben. Das meine ich mit zur Hälfte . Offen gestanden halte ich es nicht für besonders sinnvoll, seine Gefühle auf andere Weise auszudrücken als durch Sprache. Alle anderen Ausdrucksformen sind eine Form der Schauspielerei. Sie sind nur Schau. Nur Schein.
    Hamlet sagt etwas ganz Ähnliches. Es ist praktisch seine erste Aussage in dem Stück. Seine Mutter hat ihn soeben gefragt, warum er vom Tod seines Vaters noch so niedergeschlagen scheint. »Scheint, gnäd’ge Frau?«, entgegnet er. »Mir gilt kein scheint.« Dann verurteilt er alle äußeren Formen der Trauer: den »düsteren Mantel« und »gewohnte Tracht von ernstem Schwarz«, den »ergieb’gen Strom im Auge«. All dies, so sagt er, »scheint wirklich: Es sind Gebärden, die man spielen könnte …«
    »Mein Gott«, platzte ich heraus. »Mein Gott, ich hab’s.«
    »Ich auch!«, rief Littlemore nicht weniger eifrig. »Ich weiß jetzt, wie er Elizabeth Riverford umgebracht hat, obwohl er nicht in der Stadt war. Banwell, meine ich. Sie war bei ihm! Und niemand hat etwas davon gewusst. Auch der Bürgermeister nicht. Banwell erwürgt sie an dem Ort, wo sie gerade sind, okay? Dann bringt er ihre Leiche zurück ins Apartment und fesselt sie, damit es aussieht, als wäre der Mord dort passiert. Nicht zu fassen, dass ich da erst jetzt draufkomme! War das auch Ihre Überlegung?«
    »Nein.«
    »Nein? Und was ist Ihnen eingefallen, Doc?«
    »Nicht so wichtig«, antwortete ich. »Nur etwas, worüber ich schon lange nachdenke.«
    »Und was ist das?«
    Unerklärlicherweise versuchte ich, es ihm auseinanderzusetzen. »Sie haben doch schon mal von Sein oder Nichtsein gehört, oder?«
    »So wie in das ist hier die Frage ?«
    »Ja.«
    »Shakespeare, das kennt doch jeder. Was bedeutet das eigentlich? Wollte ich immer schon wissen.«
    »Genau das ist mir gerade eingefallen.«
    »Leben oder Tod, nicht wahr? Er will sich umbringen oder so?«
    »Das haben bisher alle geglaubt«, antwortete ich. »Aber das ist es nicht … überhaupt nicht.«
    In einem einzigen Augenblick hatte sich diese Erkenntnis eingestellt: Schlaglichtartig hatte sie alles überstrahlt wie die Sonne, die nach einem Gewitter durch die Wolken sticht.
    In diesem Moment erreichte der Aufzug das Ende seiner Fahrt und

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