Morddeutung: Roman (German Edition)
Sonntag. Sie sehen ja selbst, was in dem Artikel steht. Die Familie war so freundlich, mich vorab zu verständigen, damit ich noch Maßnahmen ergreifen kann, bevor der Makel eines Skandals unumgänglich geworden ist. Bitte versichern Sie Dr. Freud, dass ich nicht den Wunsch hege, seine Vorlesungen abzusagen, denen ich schon lange mit großer Vorfreude entgegensehe. Aber es dient gewiss weder seinem noch unserem Interesse, wenn sein Auftritt diese Art von Aufmerksamkeit auf sich zieht. Selbstverständlich schenke ich persönlich solchen Anspielungen keinerlei Glauben, aber ich bin gehalten, die Meinung anderer zu berücksichtigen. Ich hoffe sehnlichst, dass dieser angebliche Zeitungsartikel nicht echt ist und dass unsere Feierlichkeiten ungetrübt und ungestört stattfinden können.
Mit freundlichen Grüßen usw. usw.
Zu meinem Entsetzen bestätigte der Brief Brills Einschätzung, dass Hall kurz davor stand, Freuds Vorlesungen abzusagen. Wer steckte hinter dieser Kampagne gegen ihn? Und was hatte Jung mit der ganzen Sache zu tun?
»Offen gestanden weiß ich nicht, wer in diesem idiotischen Bericht schlechter wegkommt – Freud oder Jung?« Brill riss mir den Pergamentbogen aus der Hand. »Hört euch das an. Wo ist es? Ah, da. ›Amerikanische Frauen schätzen die Liebe europäischer Männer.‹ Das ist unser Jung, wie er leibt und lebt. Ist das zu fassen? ›Sie ziehen uns vor, weil sie spüren, dass wir ein wenig gefährlich sind.‹ Er kann nur davon reden, wie sehr ihn die Amerikanerinnen angeblich begehren. ›Für Frauen ist es natürlich, sich fürchten zu wollen, wenn sie lieben. Die amerikanische Frau möchte auf die archaische europäische Weise bezwungen und besessen werden. Der amerikanische Mann dagegen will nur der gehorsame Sohn seiner Mutter-Frau sein.‹ Und das nennt er dann ›Amerikas Tragödie‹. Der Kerl hat doch eine Schraube locker.«
»Aber das ist kein Angriff gegen Freud«, wandte ich ein.
»Für Freud haben sie jemand anders.«
»Wen?«
»Eine anonyme Stimme, die sich nur als Arzt vorstellt und für die ›seriöse‹ Medizinergemeinde Amerikas spricht. Hören Sie sich das an:
Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, mit Dr. Freud ausführlich Bekanntschaft zu schließen. Wien ist keine moralische Stadt. Ganz im Gegenteil. Homosexualität zum Beispiel gilt dort als Zeichen höchster Verfeinerung. Einen Winter lang arbeitete ich Seite an Seite mit Freud in einem Labor und erfuhr dabei, dass er das Wiener Leben genoss – und zwar in vollen Zügen. Er hatte keine Bedenken gegen ein Zusammenleben ohne Trauschein und auch nicht gegen das außereheliche Zeugen von Kindern. Er ist kein Mann, der sich in hohen geistigen Sphären bewegt. Seine wissenschaftliche Theorie, wenn man sie überhaupt so bezeichnen möchte, ist das Ergebnis der ausschweifenden Umgebung und seiner eigenwilligen Lebensführung an diesem Ort.«
»Mein Gott«, stöhnte ich.
»Das ist rein persönliche Attacke«, bemerkte Ferenczi. »Wird amerikanische Zeitung diese Artikel veröffentlichen?«
»Das haben wir jetzt von der Pressefreiheit.« Brill handelte sich einen strafenden Blick von seiner Frau ein. »Sie haben gewonnen. Hall wird die Sache abblasen. Was sollen wir nur machen?«
»Weiß Freud schon Bescheid?«, fragte ich.
»Ja. Ferenczi hat es ihm erzählt.«
»Ich habe Höhepunkte von Zeitungsartikel laut gelesen«, bestätigte Ferenczi. »Durch Tür. Er ist nicht so aufgeregt. Er meint, er hat schon gehört schlimmere Sachen.«
»Aber Hall nicht«, warf ich ein. Freud hatte schon seit Langem Verleumdungen über sich ergehen lassen müssen. Er erwartete es nicht anders und war inzwischen bis zu einem gewissen Grad unempfindlich dagegen geworden. Hall jedoch hegte genau wie jeder andere Neuengländer aus altem puritanischen Geschlecht einen tiefen Abscheu gegen jede Art von Skandal. Wenn Freud am Tag vor Beginn der Feierlichkeiten an der Clark University in der New York Times zum Wüstling erklärt wurde, dann überstieg das einfach seine Kräfte. »Hat Freud eine Ahnung, wer der Verfasser sein könnte, der ihn in Wien gekannt hat?«
»Es gibt niemanden«, rief Brill. »Er sagt, er hat nie mit Amerikanern zusammengearbeitet.«
»Was? Aber das ist unsere Chance. Vielleicht ist der ganze Artikel eine Fälschung. Brill, rufen Sie Ihren Freund bei der New York Times an. Wenn die das wirklich bringen wollen, sagen Sie ihnen, dass es sich um üble Nachrede handelt. Die können nicht einfach eine glatte
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