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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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amüsiert.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja«, antwortete sie. »Anscheinend hat es Ihnen sogar großen Spaß gemacht.«
    Ich blickte sie lange an, um zu ergründen, wie viel sie wusste. Beim Selbstmord meines Vaters war eine Schusswaffe im Spiel gewesen. Um es deutlich zu sagen: Er hatte sich das Hirn herausgeblasen. »Mein Onkel hat es mir beigebracht, nicht mein Vater.«
    »Ihr Onkel Schermerhorn oder Ihr Onkel Fish?«
    »Sie wissen mehr über mich, als mir klar war, Miss Acton.«
    »Wer sich ins Social Register einträgt, darf sich nicht beschweren, wenn seine Verwandtschaftsbeziehungen allgemein bekannt sind.«
    »Ich habe mich nicht eingetragen. Ich bin eingetragen worden, genau wie Sie.«
    »Ist es Ihnen nahegegangen, als er starb?«
    »Wer?«
    »Ihr Vater.«
    »Was möchten Sie eigentlich wissen, Miss Acton?«
    »Ist es Ihnen nahegegangen?«
    »Niemand trauert um einen Selbstmörder.«
    »Wirklich? Ja, ich glaube der Tod eines Vaters ist nichts Besonderes. Auch Ihr Vater hat einen Vater verloren, und dieser Vater auch.«
    »Ich dachte, Sie hassen Shakespeare.«
    »Wie ist es, Dr. Younger, wenn man von jemandem großgezogen wird, den man verachtet?«
    »Müssten Sie das nicht besser wissen als ich, Miss Acton?«
    »Ich? Ich bin von jemandem großgezogen worden, den ich liebe.«
    »Davon lassen Sie sich aber nichts anmerken, wenn Sie von Ihren Eltern reden.«
    »Ich rede auch nicht von meinen Eltern«, erwiderte Nora. »Ich spreche von Mrs. Biggs.«
    »Ich habe meinen Vater nicht gehasst«, bemerkte ich.
    »Aber ich hasse meinen. Wenigstens habe ich keine Angst, es zuzugeben.«
    Der Wind wurde stärker. Vielleicht änderte sich das Wetter. Nora blickte beharrlich zum Ufer hinüber. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit ihren Bemerkungen erreichen wollte.
    »So viel haben wir auf jeden Fall gemeinsam, Miss Acton: Wir sind beide mit dem Wunsch aufgewachsen, anders zu sein als unsere Eltern. Anders als beide. Aber Auflehnung, sagt Dr. Freud, verrät genauso viel Anhänglichkeit wie Gehorsam.«
    »Ich verstehe. Sie haben es geschafft, sich von Ihren Eltern zu lösen.«
    Einige Minuten später forderte sie mich auf, ihr mehr über Freuds Theorien zu erzählen. Ich folgte ihrer Bitte, vermied aber jede Erwähnung von Ödipus und verwandten Themen. Ohne die übliche Standesetikette zu beachten, beschrieb ich ihr einige meiner früheren Fälle – anonym natürlich -, um ihr das Wesen der Übertragung und deren extreme Auswirkungen auf Analysepatienten zu verdeutlichen. So kam es, dass ich ihr auch von Rachel berichtete, der jungen Frau, die sich praktisch in jeder Sitzung vor mir entblößen wollte.
    »War sie schön?«, fragte Nora.
    »Nein«, log ich.
    »Sie lügen. Männer lieben doch solche Mädchen. Wahrscheinlich haben Sie mit ihr geschlafen.«
    »Selbstverständlich nicht.« Ich war erstaunt über ihre Direktheit.
    »Ich bin nicht in Sie verliebt, Dr. Younger.« Sie tat, als wäre das die logischste Erwiderung der Welt. »Ich weiß, dass Sie das denken. Gestern habe ich irrigerweise geglaubt, dass ich etwas für Sie empfinde, aber das war die Folge meiner Nervenanspannung und der Tatsache, dass Sie mir Ihre Zuneigung erklärt haben.«
    »Miss Acton …«
    »Keine Angst, ich will Sie nicht beim Wort nehmen. Ich habe verstanden, dass Ihre gestrigen Äußerungen nicht mehr Ihren wahren Gefühlen entsprechen. Bei mir ist es genauso. Ich empfinde nichts für Sie. Diese Sache mit der … Übertragung, die angeblich dazu führt, dass die Patienten ihre Ärzte entweder lieben oder hassen, trifft auf mich nicht zu. Ich bin Ihre Patientin, so wie Sie gesagt haben. Das ist alles.«
    Ich ließ ihre Worte ohne Antwort verklingen, während die Fähre flussaufwärts stampfte.

     
    Am Freitag erschien Detective Littlemore kurz nach Mittag vor einer kleinen, schmutzigen Zelle in der riesigen grauen Gefängnisburg, die als Tombs bekannt war. Es gab kein Fenster, durch das Sonnenlicht fallen konnte. Neben Littlemore stand ein Wärter. Beide starrten durch die Eisenstäbe auf Chong Sing, der bewusstlos hingestreckt auf seiner verlausten Pritsche lag. Sein weißes Unterhemd war über und über mit Flecken besudelt. Seine Füße waren nackt und dreckig.
    »Schläft er?«, erkundigte sich Littlemore.
    Feixend erklärte ihm der Wärter, dass Sergeant Becker Chong die ganze Nacht wach gehalten hatte. Zuerst war Littlemore überrascht, Beckers Namen zu hören. Dann fiel ihm ein, dass Miss Sigel im Tenderloin-Bezirk gefunden worden war und das

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