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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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mit der Fähre. Wenn man fragt, hält sie in Tarry Town. Bitte, Dr. Younger. Ich habe sonst niemanden.«
    Ich überlegte. Nora aus der Stadt zu bringen war ziemlich heikel. George Banwell war auf irgendeine Weise völlig unbemerkt in ihr Schlafzimmer eingedrungen; das hieß, er konnte wiederkommen. Aber Nora konnte kaum allein mit der Fähre fahren. Flussaufwärts zu reisen war für eine junge Frau nicht sicher – vor allem wenn sie aussah wie Miss Acton. Also musste alles andere noch bis zum Abend warten. Freud lag im Bett. Wenn sich Brills Versuch, seinen Freund bei der New York Times zu erreichen, als fruchtlos erwies, war der nächste Schritt, dass ich nach Worcester fuhr, um persönlich mit Hall zu reden. Aber dafür war auch morgen noch Zeit.
    »Ich bringe Sie hin«, erklärte ich entschlossen.
    »In diesem Anzug?«, fragte sie.

     
    Eine halbe Stunde nach Zustellung der Morgenpost erfuhr Clara von ihrem Dienstmädchen, dass ein Besucher – »ein Polizist, Ma’am« – im Foyer wartete. Clara folgte dem Dienstmädchen in die marmorne Vorhalle, wo ihr Butler den Hut eines blassen Mannes in braunem Anzug hielt, der einen scharfen, fast verzweifelten Blick, einen großen Schnauzer und dichte Augenbrauen hatte.
    Clara fuhr zusammen, als sie ihn sah. »Und Sie sind …?«, fragte sie steif.
    »Coroner Charles Hugel«, erwiderte er nicht weniger steif. »Ich bin Chefermittler im Mordfall Elizabeth Riverford. Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
    »Verstehe.« Clara wandte sich an den Butler. »Parker, das ist doch sicher eine Angelegenheit für Mr. Banwell, und nicht für mich.«
    »Bitte um Verzeihung, Ma’am«, antwortete Parker. »Der Herr hat nach Ihnen gefragt.«
    Clara sah wieder den Coroner an. »Sie haben nach mir gefragt, Mr. … Mr. …?«
    »Hugel. Nein, ich … Ich dachte nur, wenn Ihr Mann nicht da ist, Mrs. Banwell, dass Sie …«
    »Mein Mann ist zu Hause. Parker, sagen Sie bitte Mr. Banwell, dass wir einen Besucher haben. Mr. Hugel, würden Sie mich bitte entschuldigen.« Einige Minuten später hörte Clara von ihrem Ankleidezimmer aus George Banwells tiefe Stimme, die wüste Beschimpfungen ausstieß, und kurz darauf das Knallen der Eingangstür. Dann kamen die schweren Schritte ihres Mannes näher. Einen kurzen Moment lang zitterten Claras Hände, die gerade Puder auf ihr anmutiges Gesicht tupften, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

     
    Eineinviertel Stunden später fuhren Nora Acton und ich den Hudson River nach Norden hinauf, vorbei an den spektakulären dunkelorangefarbenen Klippen von New Jersey. Nachdem ich mich umgezogen hatte, hatten wir das Hotel Manhattan durch eine Kellertür verlassen – nur für alle Fälle. Auf der New Yorker Seite des Flusses lag unter Grant’s Tomb eine ganze Armada von dreimastigen Schiffen vor Anker, deren weiße Segel träge im Wind flatterten. Sie waren Teil der aufwendigen Vorbereitungen für die Hudson-Fulton-Feierlichkeiten im Herbst. Bis auf einige zarte Wolkenfedern war der Himmel makellos blau. Miss Acton saß auf einer Bank vorn am Bug, und ihr Haar wehte in der leichten Brise.
    »Ist das nicht schön?«
    »Wenn man Boote mag, ja«, antwortete ich.
    »Und Sie mögen sie nicht?«
    »Ich bin gegen Boote. Erstens dieser Wind. Wenn jemand gern Wind im Gesicht spürt, kann er sich auch vor ein elektrisches Gebläse stellen. Dann die Abgase. Und diese höllische Schiffssirene – man hat wunderbar freie Sicht, weit und breit keine Menschenseele zu sehen, und die haben nichts Besseres zu tun, als diese verdammte Sirene jaulen zu lassen, dass ganze Fischschwärme daran eingehen.«
    »Mein Vater hat heute Morgen im Barnard College angerufen und mich abgemeldet. Mutter hat ihn dazu gebracht.«
    »Das lässt sich rückgängig machen.« Ich war verlegen über mein albernes Geplapper.
    »Hat Ihnen Ihr Vater das Schießen beigebracht, Dr. Younger?«
    Die Frage überraschte mich. Ich konnte nicht erkennen, worauf sie damit hinauswollte – nicht einmal, ob sie überhaupt auf irgendwas hinauswollte. »Was bringt Sie auf die Idee, dass ich schießen kann?«
    »Können nicht alle Männer unserer Gesellschaftsschicht schießen?« Das Wort Gesellschaftsschicht sprach sie mit einer leicht verächtlichen Betonung aus.
    »Nein – außer man zählt große Töne spucken auch als schießen.«
    »Aber Sie können es. Ich habe Sie gesehen.«
    »Wo?«
    »Das hab ich Ihnen schon erzählt: beim Reitturnier letztes Jahr. Sie haben sich am Schießstand

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