Morddeutung: Roman (German Edition)
An der Forty-second Street gegenüber vom Hotel war ein riesiges Gerüst errichtet worden, wo ein neues Gebäude hochgezogen wurde, und die Presslufthämmer veranstalteten ein ohrenbetäubendes Getöse.
Im Bahnhof hingegen war es still. Freud und Ferenczi blieben ehrfürchtig stehen. Wir befanden uns in einer märchenhaften Röhre aus Glas und Stahl, zweihundert Meter lang und dreißig Meter hoch, mit wuchtigen gasbetriebenen Kronleuchtern, die sich über die gesamte Länge der gewölbten Decke hinzogen. Eine architektonische Leistung, die jene des Turms von Monsieur Eiffel in Paris weit in den Schatten stellte. Nur Jung schien unbeeindruckt. Ich fragte mich, ob es ihm gut ging, denn er wirkte ein wenig blass und zerstreut. Freud war genauso schockiert, wie ich es gewesen war, als er erfuhr, dass der Bahnhof kurz vor dem Abriss stand. Er war für die alten Dampflokomotiven gebaut worden, und die Ära der Dampfkraft war vorbei.
Als wir die Treppe zur IRT-Untergrundbahn hinunterstiegen, verdüsterte sich Freuds Laune. »Er hat furchtbar Angst vor diese unterirdische Züge«, flüsterte mir Ferenczi ins Ohr. »Eine unanalysierte Neurose. Gestern Abend er hat mir verraten.«
Freuds Stimmung wurde definitiv nicht besser, als die U-Bahn in einem Tunnel zwischen zwei Haltestellen mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam und alle Lichter erloschen. Plötzlich waren wir in heiße, pechschwarze Finsternis getaucht. »Häuser im Himmel, Züge in der Erde«, knurrte Freud gereizt. »Mit euch Amerikanern ist es wie mit Vergil: Wenn ihr den Himmel nicht herunterholen könnt, stürzt ihr euch auf die Hölle.«
»Eigentlich das ist Ihr Lebensmotto, nicht?«, bemerkte Ferenczi.
»Mag sein, aber ich möchte nicht, dass es zu meiner Grabinschrift wird«, konterte Freud.
»Meine Herren!«, rief Brill ohne jede Vorwarnung dazwischen. »Sie haben ja noch gar nicht Youngers Analyse der gelähmten Hand gehört.«
»Eine Fallgeschichte?« Begeisterung trat in Ferenczis Ton. »Müssen wir hören, unbedingt.«
»Nein, nein«, wehrte ich ab. »Das war doch gar nicht vollständig.«
»Unsinn«, tadelte mich Brill. »Es ist eine der perfektesten Analysen, die ich je gehört habe. Sie bestätigt jeden einzelnen Grundsatz der Psychoanalyse.«
Da mir nichts anderes übrig blieb, berichtete ich von meinem bescheidenen Erfolg, während wir in der schwülen Dunkelheit darauf warteten, dass der Zug wieder zum Leben erwachte.
1908 schloss ich in Harvard mein Studium mit einem Doktorgrad nicht nur in Medizin, sondern auch in Psychologie ab. Beeindruckt von meinem Fleiß, machten meine Professoren G. Stanley Hall auf mich aufmerksam, den Mann, der der Erste mit einem Psychologieabschluss in Harvard gewesen war. Er war Gründer der American Psychological Association und inzwischen Präsident der Clark University in Worcester. Hall hatte den Ehrgeiz, die finanziell üppig ausgestattete Universität zu einer führenden Forschungsstätte des Landes zu machen. Als er mir eine Stellung als wissenschaftlicher Assistent für Psychologie anbot – und damit die Chance, meine eigene Praxis zu eröffnen und Boston den Rücken zu kehren -, schlug ich sofort ein.
Einen Monat später hatte ich bereits meine erste Patientin: ein Mädchen, das von seiner verstörten Mutter in meiner Praxis abgeliefert wurde. Hall hatte die Familie dazu bewegt, Priscilla – wie ich sie hier nennen will – zu mir zu schicken. Eine genauere Beschreibung der Umstände ist nicht möglich, ohne die Identität des Mädchens zu verraten.
Priscilla war klein und stämmig, besaß aber ein anziehendes Gesicht und einen unkomplizierten Charakter. Seit einem Jahr litt sie unter Anfällen akuter Kurzatmigkeit, gelegentlichen Kopfschmerzen, die sie stark beeinträchtigten, und einer völligen Lähmung der linken Hand. All das verwirrte und beschämte sie. Die Lähmung, die sich auf die ganze Hand und das Handgelenk erstreckte, deutete ganz offen auf Hysterie. Freud hatte darauf hingewiesen, dass Paralysen dieser Art keiner echten Dermatominnervation entsprechen und somit keine physiologische Ursache für sich in Anspruch nehmen können. Ein echter neurologischer Schaden könnte beispielsweise mehrere Finger gebrauchsunfähig machen, aber nicht das Handgelenk. Oder es ist möglich, dass der Daumen nicht mehr bewegt werden kann, während die anderen Finger weiterhin funktionieren. Wenn eine Lähmung einen Körperteil mit all seinen neuralen Verästelungen erfasst, ist keine
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