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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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sobald ich ihr die Hand auf die Stirn legte.
    Ich tat es mit einiger Beklommenheit, denn ich hatte meine Autorität aufs Spiel gesetzt. Wenn nichts passierte, wäre ich in einer schlechteren Position als zuvor. Doch die Erinnerung kam tatsächlich ans Licht, so wie es Freud in seinen Schriften behauptet hatte, kaum dass Priscilla den Druck meiner Hand auf ihrem Kopf spürte.
    »Ach, Dr. Younger«, rief sie, »ich hab’s gesehen!«
    »Was?«
    »Marys Hand.«
    » Marys Hand?«
    »Im Sarg. Es war schrecklich. Wir mussten sie anschauen.«
    »Sprich weiter.«
    Priscilla schwieg.
    »War mit Marys Hand etwas nicht in Ordnung?«
    »O nein, Herr Doktor. Sie war vollkommen. Sie hatte immer vollkommene Hände. Sie konnte wunderbar Klavier spielen, im Gegensatz zu mir.« Priscilla kämpfte mit einer Gefühlsregung, die ich nicht erschließen konnte. Ihre Wangen und ihre Stirn hatten sich beängstigend gerötet. »Und sie war immer noch so schön. Selbst der Sarg war schön, mit dem Samt und dem weißen Holz. Sie hat ausgesehen wie Dornröschen. Aber ich wusste, dass sie nicht schläft.«
    »Und was war mit ihrer Hand?«
    »Marys Hand?«
    »Ja, Marys Hand, Priscilla.«
    »Bitte zwingen Sie mich nicht, das zu sagen«, wimmerte sie. »Ich schäme mich so.«
    »Du musst dich nicht schämen. Wir sind nicht verantwortlich für unsere Gefühle. Deshalb müssen wir uns auch nicht für unsere Gefühle schämen.«
    »Ehrlich, Dr. Younger?«
    »Ganz ehrlich.«
    »Aber es war so unrecht von mir.«
    »Es war Marys linke Hand, nicht wahr?«, sagte ich, einer Eingebung folgend.
    Sie nickte, als würde sie ein Verbrechen gestehen.
    »Erzähl mir von ihrer linken Hand, Priscilla.«
    »Der Ring.« Sie flüsterte mit fast unhörbarer Stimme.
    »Ja, der Ring.« Dieses Ja war natürlich eine Lüge. Damit wollte ich Priscilla zu verstehen geben, dass ich bereits alles begriffen hatte, obwohl das in Wirklichkeit keineswegs der Fall war. Dieses kleine Täuschungsmanöver war der einzige Aspekt der ganzen Angelegenheit, den ich später bedauerte. Doch ich muss zugeben, dass ich diese Täuschung in der einen oder anderen Form seither bei jeder von mir begonnenen Psychoanalyse angewandt habe.
    Sie fuhr fort. »Es war der Goldring, den ihr Brad geschenkt hatte. Und ich dachte mir, was für eine Verschwendung. Was für eine Verschwendung, ihn mit ihr zu begraben.«
    »Das ist nichts, wofür man sich schämen muss. Praktisches Denken ist kein Laster, sondern eine Tugend«, versicherte ich ihr.
    »Sie verstehen das nicht«, widersprach sie. »Ich wollte ihn für mich.«
    »Ja.«
    »Ich wollte ihn selbst tragen , Herr Doktor.« Sie hatte den Satz laut gerufen. »Ich wollte, dass Brad mich heiratet. Hätte nicht ich mich um die armen kleinen Kinder kümmern können? Hätte nicht ich ihn glücklich machen können?« Schluchzend vergrub sie den Kopf in den Händen. »Ich war froh, dass sie tot war, Dr. Younger. Ich war froh . Weil er jetzt frei war für mich.«
    »Priscilla«, mahnte ich, »ich kann dein Gesicht nicht sehen.«
    »Tut mir leid.«
    »Ich meine, ich kann dein Gesicht nicht sehen, weil deine linke Hand darauf liegt.«
    Sie ächzte auf. Es war tatsächlich so: Sie benutzte ihre linke Hand, um sich die Tränen abzuwischen. Sie hatte die Erinnerung wiedererlangt, deren Verdrängung das hysterische Symptom verursacht hatte, und im gleichen Augenblick war dieses Symptom verschwunden. Seither ist ein Jahr vergangen, und weder die Lähmung noch die Atemnot noch die Kopfschmerzen sind wieder aufgetreten.
    Es war nicht weiter schwer, die Geschichte zu rekonstruieren. Schon bei seinen ersten Besuchen bei Mary hatte sich Priscilla in Bradley verliebt. Ich werde hoffentlich niemanden schockieren mit der Bemerkung, dass die Liebe einer Dreizehnjährigen zu einem jungen Mann durchaus auch sexuelle Wünsche einschließen kann, selbst wenn diese noch nicht unbedingt ganz als solche begriffen werden. Priscilla hatte sich diese Wünsche nie eingestanden, ebenso wenig wie die daraus folgende Eifersucht auf ihre Schwester, die im Kopf des Mädchens unweigerlich zu dem schrecklichen, aber opportunistischen Gedanken führte, dass der Weg für sie frei war, wenn nur Mary tot wäre. All diese Gedanken verdrängte Priscilla aus ihrem Bewusstsein. Diese Verdrängung war zweifellos die Ursache ihrer gelegentlichen Schmerzen in der linken Hand, die wahrscheinlich am Tag der Hochzeit einsetzten, als sie zum ersten Mal den goldenen Ring am Finger ihrer Schwester sah. Zwei Jahre

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