Morddeutung: Roman (German Edition)
Leichenbeschauer, sondern auch ein gesetzlich bestellter Magistrat war und moderne Geräte eigentlich viel dringender benötigte, war in dem heruntergekommenen Van den Heuvel Building zurückgelassen worden, wo der Gips von den Wänden bröckelte, die Luft von Schimmelgeruch erfüllt war und, ganz besonders schlimm, die Decken übersät waren von Wasserflecken. Er verabscheute den Anblick dieser Flecken mit ihren bräunlich gelben ausgefransten Rändern. Und heute verabscheute er ihn ganz besonders stark. Er hatte das Gefühl, die Flecken seien gewachsen, und fragte sich, ob vielleicht gleich die Decke auseinanderbrechen und auf ihn herabstürzen würde. Natürlich musste ein Coroner sein Büro beim Leichenschauhaus haben, das sah er durchaus ein. Aber er sah überhaupt nicht ein, weshalb man in das neue Polizeihauptquartier kein neues Leichenschauhaus hatte eingliedern können.
Littlemore kam in das Büro des Coroners geschlendert. Der Detective war erst fünfundzwanzig. Weder groß noch klein, war Jimmy Littlemore nicht unattraktiv, aber auch nicht unbedingt gut aussehend. Sein kurz geschorenes Haar war weder dunkel noch blond; am ehesten war es wohl rötlich. Er hatte ein ausgesprochen amerikanisches Gesicht, offen und freundlich, das mit Ausnahme einiger Sommersprossen nicht besonders einprägsam war. Wäre man ihm auf der Straße begegnet, hätte man sich später kaum an ihn erinnert. Im Gedächtnis geblieben wären einem allerdings sein sympathisches Lächeln und die rote Fliege, die er unter seinem Strohhut zur Schau trug.
Der Coroner forderte Littlemore auf, ihm zu berichten, was er im Fall Riverford herausgefunden hatte. Er gab sich große Mühe, bestimmt und befehlsgewohnt zu klingen. Nur in so außergewöhnlichen Angelegenheiten wie dieser wurde der Coroner direkt mit der Leitung einer Untersuchung betraut, und er wollte Littlemore gleich von Anfang an zu verstehen geben, dass der Detective mit ernsten Konsequenzen rechnen musste, wenn er keine Ergebnisse vorzuweisen hatte.
Der gebieterische Ton des Coroners schien den Detective nicht sonderlich zu beeindrucken. Obwohl Littlemore bei seinen Kriminalermittlungen noch nie mit dem Coroner zusammengearbeitet hatte, wusste er natürlich so gut wie jeder andere bei der Truppe, dass Hugel beim neuen Polizeichef nicht besonders hoch im Kurs stand, dass er wegen des Eifers, mit dem er seine Obduktionen durchführte, den Spitznamen »Ghul« trug und dass er in der Behörde eigentlich nichts zu sagen hatte.
Doch Littlemore, der einen überaus gutmütigen Charakter hatte, gab sich keineswegs respektlos gegen den Coroner. »Was ich über den Fall Riverford weiß? Ehrlich gesagt, gar nichts, Mr. Hugel, bloß dass der Mörder über fünfzig ist, eins fünfundsiebzig groß, unverheiratet und vertraut mit dem Anblick von Blut. Er wohnt unterhalb der Canal Street und hat die letzten zwei Tage am Hafen verbracht.«
Hugel fiel die Kinnlade herunter. »Woher wissen Sie das alles?«
»Kleiner Scherz, Mr. Hugel. Ich weiß nicht das Geringste über den Mörder. Ich weiß nicht mal, warum Sie mich da überhaupt hingeschickt haben. Sie haben nicht zufällig Fingerabdrücke genommen, Sir?«
»Fingerabdrücke? Natürlich nicht. Die werden bei Gericht doch nie als Beweismittel zugelassen.«
»Na ja, als ich dort ankam, war es auf jeden Fall zu spät dafür. Die ganze Wohnung war schon sauber gemacht worden. Die Sachen von der Frau waren alle weg.«
Hugel schäumte. Das war eine klare Behinderung der Ermittlungen. »Aber Sie müssen doch irgendwas über diese Miss Riverford erfahren haben.«
»Also, sie war einfach der ruhige Typ. Sehr zurückgezogen.«
»Ist das alles?«
»Sie war noch neu«, antwortete Littlemore. »Hat erst seit ein oder zwei Monaten dort gewohnt.«
»Das Haus wurde im Juni eröffnet, Littlemore. Alle Leute wohnen erst seit ein oder zwei Monaten dort.«
»Oh.«
»Ist sie gestern zusammen mit jemandem gesehen worden?«, hakte der Coroner nach.
»Sie ist ungefähr um acht nach Hause gekommen. Ohne Begleitung. Auch später hatte sie keine Besucher. Ist in ihrer Wohnung verschwunden und nicht mehr erschienen, soweit das irgendjemand beobachtet hat.«
»Hatte sie regelmäßige Besucher?«
»Nein. Niemand erinnert sich, dass sie jemals Besuch hatte.« »Warum hat sie allein in New York gelebt – in ihrem Alter und in so einem großen Apartment?«
»Das hätte mich auch interessiert«, erwiderte Littlemore. »Aber die haben ziemlich dichtgehalten im
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